Freitags 5nach6 - Andacht: Wie soll ich leben?

29. Oktober 2021

285 5nach6_29.10.21_Wie soll ich leben? Martin Luther         Ps 25
Nach der kleinen Pause am letzten Freitag möchte ich anknüpfen die vorangegangenen Andachten. Im Zusammenhang mit Erntedank ging es um die Frage „Woher komme ich? Woher kommt das Leben um mich herum“ Im Vorfeld des Reformationstages möchte ich nachdenken über eine andere große Frage der Menschheit: Wie soll ich leben?

Zuerst ein Eingeständnis: Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich kann sie bestenfalls umkreisen und einige Bausteine für eine Antwort finden. Dazu möchte ich – aus gegebenem Anlass – an einige Gedanken Martin Luthers anknüpfen.

So schreibt er: Die Liebe macht die Dinge süß, die sonst bitter sind, wertvoll, die nichtig sind, hoch erhaben, die verachtet sind.

Das erinnert sofort an das Hohelied der Liebe im ersten Brief von Paulus an die Christen in der griechischen Stadt Korinth: Wenn ich keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken … 13Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe –diese drei. Doch am größten von ihnen ist die Liebe.

Ohne geliebt zu werden, ohne zu lieben, geht gar nichts jedenfalls nicht in die richtige Richtung. Luther beschreibt hier eine Liebe, die weitaus mehr ist als vier Füße im Bett, eine Liebe, die über jede Romantik hinausgeht – ohne das andere zu verachten!

Es geht Luther um eine geradezu revolutionäre Liebe. Diese Liebe dreht alles auf den Kopf. Grenzen werden gesprengt, überschritten, vertraute Denkweisen über das, was schlimm, unwichtig oder verachtenswert ist, werden über den Haufen geworfen.

Dann ist die schlechte Schulnote des Kindes zwar ärgerlich, aber der Vater spürt, dass das Kind jetzt erst recht seine Liebe braucht. Dann sind lästige Insekten plötzlich überlebenswichtig für die Menschheit und brauchen eine liebevoll angelegte Blühwiese. Dann wird der verachtete Müllmann zum Umweltschützer in der ersten Reihe, die schlecht bezahlte Pflegekraft zum Engel der Barmherzigkeit – und wird dann auch entsprechend wertgeschätzt und behandelt.

Erster Merksatz: Liebevoll leben, das ist eine Antwort auf die Frage „Wie soll ich leben?“.

Zuversicht und die Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegenüber Gott und allen Kreaturen.

„Ich will noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen“, ein Spruch, den die meisten von Eltern oder Lehrern kennen. Da ist man dann gerade noch einmal davongekommen – ohne Strafe. Keine falsche, aber doch recht einseitige Umschreibung von Gnade! Der Duden beschreibt Gnade als Rast, Ruhe, Behagen, Freude, Zuwendung, Gottes Hilfe, Erbarmen, Frieden, Schutz … und sie ist kostenlos, ein Geschenk – gratis eben; unser Wort Gnade ist verwandt mit dem lateinischen Wort Gratia! In der Taufe wird sie jedem zugesprochen, Gott ist wirklich zuvorkommend, seine Gnade kommt vor allem Tun, das von unserer Seite kommen könnte.

Dieses Gratisgeschenk anzunehmen, auszupacken – daraus kann wirklich Lebensfreude entspringen, ja, auch eine gewisse Widerständigkeit gegen alles und jeden, der diese Gnade, dieses Verständnis und dieses Gefühl von Leben für mich oder andere schmälern will.

„Kostenlos, aber nicht umsonst!“, war ein Lieblingssatz meines Chefs. Umsonst meint hier so viel wie folgenlos. Ja, und Gottes Gnade für mich hat Folgen für mich. Luther sagt: „Gott ist ein Backofen voller Liebe“ – genau! Und jeder von uns ist ein Brot, dass in diesem Ofen gebacken wird, Wärme abgibt und „Lebensmittel“ für andere wird. 

Zweiter Merksatz: Aus der Gnade leben, das ist eine Antwort auf die Frage „Wie soll ich leben?“.

Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden … Wir sind’s noch nicht, aber wir werden’s aber.

Und wie werde ich so ein von Gott gebackenes, gottgefälliges Wesen? Luther hat lange verzweifelt mit diesem Anspruch an sich gekämpft. Und er hat sich dafür den Begriff „fromm“ gewählt. Anders als heute, wo „fromm“ bestimmte vom Glauben bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen meint, war der Begriff zu Luthers Zeiten deutlich handfester: Fromm war, wer ein Nutzen war für andere, tüchtig, tapfer, rechtschaffen. Darum sollte man sich bemühen.

Dabei wusste Luther sehr genau um seine und auch unsere Grenzen. Wir sind es noch nicht, wir sind bestenfalls im Werden. Und wann sind wir es? Unser Pastor spricht gern von der „ewigen Vollendung“, der Vollendung in der Ewigkeit.

Das entlastet! Gott ist nicht wie der Reiter auf dem Esel, der dem Tier an einer Stange die Möhre vor die Nase und es damit auf Trab hält. Wir müssen nicht wie blöde und bis zur Erschöpfung rennen und hasten, um das große Ziel „Frömmigkeit“ zu erreichen. Nicht wir haben es in der Hand, perfekt „fromm“ zu werden, Gott wird nach unserem Tod sein Werk an uns vollenden. Wir sind unterwegs zur Frömmigkeit – und Gott ist mit uns unterwegs.

Dritter Merksatz: Fromm leben, das ist eine Antwort auf die Frage „Wie soll ich leben?“.

Woher komme ich? Woher kommt alles? Wie soll ich leben?

Eine – aus meiner Sicht – grandiose Antwort auf diese drei Fragen steckt in der Erzählung „Die Freiheit kosten“ von Susanne Niemeyer (Quelle: S.Niemeyer, Die Freiheit kosten, in: dies., Soviel du brauchst, Freiburg, 2021, S. 17ff, zit. nach: Susanne Niemeyer. Sieben Sachen zum besseren Leben - PDF Free Download (docplayer.org)):

 

Die Freiheit kosten  (nach 1. Mose 2,15–3,24)

Am Anfang war die Anzeige: »Wohnen im Grünen, großer Garten, viel Platz, alle Möglichkeiten.« Das klingt so fantastisch, dass sie es kaum glauben können. Ein Haus! Im

Grünen! Und keine Nachbarn in Sicht!

»Ruf an«, drängelt Eva, »ruf schon an!« Adam, von Natur aus zurückhaltender, versucht ihre Begeisterung zu bremsen: »Es wird längst weg sein.« Aber dann ruft er doch an.

Der Vermieter ist ein älterer Herr. Er klingt nett. Ja, das Haus sei noch da, ja mitten im Grünen, völlig ungestört, wenn man wolle, könne man sogar nackt durch den Garten

laufen. Tiere gäbe es auch, und im Übrigen seien sie die einzigen Bewerber. »Kommen Sie vorbei«, sagt er. »Es ist alles noch frei. Sie sind die ersten.«

»Frag«, flüstert Eva, »frag nach einem Termin!« »Sofort«, antwortet der Vermieter, der offenbar gute Ohren hat, »Sie können sofort kommen.«

Der Garten ist ein Paradies. Es gibt Apfelbäume und Schlehen. Sonne blitzt durch die Blätter. Orchideen wippen an einem türkisen Teich. Fische tauchen auf. Staunend ste-

hen sie da. Ein Eichhörnchen und ein Feldhase spielen miteinander Verstecken. »Schau nur«, ruft Eva entzückt, »wie zahm sie sind, als hätten sie noch nie einen Menschen gesehen!«

Adam, etwas pragmatischer veranlagt, räuspert sich.  »Und die Miete?«, fragt er. »Was schulden wir Ihnen?« »Nichts«, antwortet der alte Herr zu ihrem Erstaunen. »Sie können hier frei wohnen. Achten Sie ein bisschen auf die Tiere. Schauen Sie nach den Äpfeln.« Dann lächelt er stolz. »Wissen Sie, das alles habe ich selbst geschaffen. Mir ist wichtig, dass es erhalten bleibt. Verstehen Sie?«

Sie werden wunderbare Nachbarn. Manchmal schaut der alte Herr vorbei. Dann plaudern sie am Gartenzaun. So vergehen die Tage. Sie lieben einander und das Glück an ihrer Seite. Auf den Morgen folgt der Abend und auf den Abend ein neuer Morgen.

Aber eines Tages kommt die Nacht. Aus ihrem Dunkel steigt ein Schatten. Er flüstert in ihre Träume: »Und noch?« Er schlängelt sich in ihre Gedanken: »Und noch?« Er kreist sie ein, er taucht auf, wo sie ihn nicht vermuten. »Und noch?«, wispert er und versetzt ihre Herzen in Unruhe. »Reicht euch das? Ihr könntet mehr haben. Ihr könntet größer sein. Ihr könntet die Regeln bestimmen.«

Sie lernen die Skepsis kennen: »Werden wir immer hier leben? Wird die Liebe bleiben? Wer gibt uns eine Garantie?« Eine Frage zieht die nächste nach sich. Sie lehrt sie Worte,

die neu sind. Unabhängigkeit. Macht. Gier. Haben. Wollen.

Diese Worte schmecken süß. Der alte Herr warnt sie: »Esst nicht von diesen Früchten. Sie kosten euch das Leben.«

Sie tun es doch. Sie können nicht von ihnen lassen. Sie beißen an. Sie beißen zu.

Da erkennen sie: Wir sind nackt. Wir wissen nichts. Wir haben nichts. Wir sind verletzbar. Alles scheint möglich, alles ist offen. Es gibt keine Sicherheit. Die Angst holt sie ein:

Wo können wir uns verbergen?

Der alte Herr sucht nach ihnen. Er ruft. Sie antworten nicht. Sie halten seinem Blick nicht mehr stand. Sie fühlen sich durchschaut.

Da erkennt auch er: »Ihr wollt die Freiheit. Ihr wollt das Leben und den Tod. Ihr wollt Antworten und Fragen. Ihr wollt alles. Das gibt es nicht ohne das Nichts.«

Er zeigt ihnen das Tor. Es steht weit offen. »Geht«, sagt er. »Geht und nehmt euch das Leben.«

Er hilft ihnen in den Mantel. Er führt sie hinaus in die Weite. Die Feuerlilien leuchten. Eine Schneetaube fliegt auf. Sie sehen ihr nach und ringen um Fassung.

»Was haben wir getan!?«, ruft Adam. »Der alte Herr hat gesorgt für uns wie ein Vater. Was machen wir jetzt?«

»Komm«, antwortet Eva und nimmt seine Hand. »Zeit, erwachsen zu werden.«

»Wohin gehen wir?«, fragt er.

»Ins Paradies.«

»Aber verstehst du nicht?«, ruft Adam, »Es ist weg!«

»Nicht ganz. Wir haben die Erinnerung. Wir bauen es da draußen.«

Dann brechen sie auf. Sie kommen zur Welt.

Gebet:
Mein Gott,
du hast mich reich beschenkt:
mit dem Leben,
mit Gütern und Gaben,
mit Menschen vor allem,
die mir nahe sind,
mit Jesus Christus,
mit deinem Wort,
mit deiner Gnade.
Und was gebe ich zurück?
Ich habe viel –
Und doch ist es wenig,
was ich zurückgebe.
Lass es wenigstens dieses sein:
Dass ich Jesus Christus nachfolge,
ihn mein Licht und meine Wahrheit sein lasse,
ihn bezeuge vor den Menschen
… und mit ihnen teile,
was ich von dir empfange.

(Hans Joachim Schliep, in: J.Arnold u.a., Tagesgebete – nicht nur für den Gottesdienst, Hannover, 2006, S.136f)