Freitags 5nach6 - Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

27. Januar 2023

330 5nach6 27.01.2023_Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus        Ps 22

27. Januar … Bundestagspräsident Lammert sagte 2015 über diesen Tag:

Dieser Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert an alle Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes während der Zeit des Nationalsozialismus:
„Wir gedenken der Entrechteten, Gequälten und Ermordeten: der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der Zeugen Jehovas, der Millionen verschleppter Slawen,
der … Zwangsarbeiter, der Homosexuellen, der politischen Gefangenen, der Kranken und Behinderten, all derer, die die nationalsozialistische Ideologie zu Feinden erklärt und verfolgt hatte. Wir erinnern … auch an diejenigen, die mutig Widerstand leisteten
oder anderen Schutz und Hilfe gewährten.“

Wir denken heute nicht nur, aber besonders an die Menschen jüdischen Glaubens,
die von den Nationalsozialisten verfolgt, gequält und ermordet wurden.

Bei diesem schmerzlichen Erinnern hilft uns die Geschwister-Erzählung von Kain und Abel!

Sie erinnern sich? In 1Mose 4,1–24 findet sich die Erzählung über Kain und Abel,
die Söhne Adams und Evas. Kain, der Ackerbauer, war neidisch auf seinen Bruder Abel, den Hirten, weil Gott dessen Opfer vorzog. In der Folge kamen ihm böse Gedanken,
er hörte nicht auf die Ermahnungen Gottes und erschlug schließlich seinen Bruder. 

Genauso wie Kain und Abel Geschwister waren, so sind Juden die älteren Geschwister von uns Christen. Jesus war nicht etwa der erste Christ, er ist bis zu seinem Tod Jude gewesen. Wir haben mit den Juden das Alte Testament gemeinsam und Gott, auch wenn wir in unterschiedlicher Weise auf ihn schauen
– wie Geschwister unterschiedlich auf ihre gemeinsamen Eltern schauen

Gott fragt Kain:»Wo ist dein Bruder Abel?« Kain antwortet: »Das weiß ich nicht.
Bin ich dazu da, auf meinen Bruder achtzugeben?« (1Mose 4,9)

Ja, um Gottes Willen, ja, wir sind dazu da, auf unsere Brüder und Schwestern,
auf unsere Mitmenschen achtzugeben und achtsam mit ihnen umzugehen!

Kain antwortet: »Das weiß ich nicht. Bin ich dazu da, auf meinen Bruder achtzugeben?«. Zweimal taucht in Kains Antwort das Wort „ich“ auf. Er denkt an sich, nur an sich.

Deshalb Kains Mord an seinem Bruder Abel.

Deshalb musste Abel in Todesnot schreien.

Deshalb schreit sein Blut zum Himmel.

Und in gleicher Weise egoistisch und rücksichtslos waren die Verfolgungen,
die Juden in der Geschichte bis heute durch Christen erlitten haben.

Und so hallt Abels Todesschrei durch die Geschichte bis heute.
Abels Schrei gelangt an einen grausamen Höhepunkt in den Schreien der Juden,
die in Auschwitz und an anderen Orten ermordet wurden
-  sehr oft von Menschen, die sich als Christen verstanden.

Und die Schreie der Opfer hören nicht auf,
die Schreie immer neuer Opfer mischen sich darunter.

Schauen wir uns das Bild des norwegischen Malers Edvard Munch „Der Schrei“ an!
Es ist Teil einer Serie, die um 1900 entstanden ist. Wir sehen eine menschliche Figur (unter einem roten Himmel), die ihre Hände gegen den Kopf presst,
während sie Mund und Augen angstvoll und entsetzt aufreißt.
In diesem Gesicht können wir Abel wiedererkennen,
ermordete Juden wiedererkennen, so viele andere Opfer wiedererkennen.

Die Schreie der Opfer sind nicht denkbar
ohne das fanatische Grölen und Schreien der Täter,
mit dem sie die Menschen in den Tod getrieben haben und immer noch treiben.

Dabei beginnen die Schreie der Täter ganz und gar nicht laut. 

Die Schreie der Täter beginnen damit, dass Kain „ich“ sagt und nur an sich denkt.
Die Kains dieser Welt kennen auch ausschließlich das „ich“, sie kennen kein „wir“
– mit einer Ausnahme:
Sie kennen das „wir“ der Gleichgeschalteten, der Gleichgesinnten, der gleich Tickenden.

Die Schreie der Täter beginnen damit,

dass sie sehen, dass andere anders sind;

dass sie sagen: „Naja, es gibt eben uns und die anderen“;

dass sie die Stirn runzeln, den Mund verziehen und abschätzig gucken auf die anderen;

dass sie überzeugt sind: „Wir sind besser als die anderen“;

dass sie denken: „Die anderen sind nicht wirklich Menschen wie wir“;

dass sie lauter werden und deutlich sagen: „Die anderen sind minderwertig“;

dass sie die anderen entmenschlichen: „Du Judensau, du Kameltreiber“, „du Zecke“;

dass sie die anderen vertreiben: „Juden raus, Ausländer raus“;

dass sie die anderen zusammentreiben: „Los, los, vorwärts“;

dass sie die anderen quälen und töten.

So hat das damals angefangen und so ist es zu Ende gegangen.

Ist es wirklich zu Ende gegangen?

Wenn Geschichte schöngefärbt, verdrängt, verleugnet, lächerlich gemacht wird,
wenn Menschen ihre Würde, ihre Unversehrtheit und schließlich ihr Leben genommen wird, dann fängt es wieder an.

Und dann braucht es einen neuen Schrei, diesmal
einen Weckruf,
einen Aufschrei,
einen Protestschrei,
damit sich das Elend nicht immer aufs Neue wiederholt.

Denn es kann anders werden!

Auch das zeigt uns die Erzählung von Kain und Abel. Wir lesen (1Mose 4, 15ff i.A.):
Der Herr machte ein Zeichen an Kain. Niemand, der ihm begegnete,
durfte ihn töten.16 Kain zog fort, weg vom Herrn, und ließ sich im Land Nod nieder.
Das liegt östlich des Gartens Eden.
17 Danach gründete Kain eine Stadt  ...

Am Anfang heißt es: Gott fragt Kain:»Wo ist dein Bruder Abel?“
Gott fragt nach dem Opfer, hört seinen Schrei und stellt sich auf die Seite des Opfers.

Aber das bleibt nicht folgenlos.

Als Parteigänger des Opfers stellt Gott den Täter zur Rede.
Er macht ihm klar, dass er sich mit seiner Tat aus der Gemeinschaft entfernt hat.

Und dann?

Gott gibt dem Täter die Chance eines Neuanfangs,
die Chance, das Täter-Leben hinter sich zu lassen.

So wird aus einer Erzählung von zerstörtem Leben eine Erzählung von neuem Leben. Aus einer Mord-Geschichte wird eine Hoffnungsgeschichte – Gott sei Dank!

Gebet:

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht in Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
das bleibt mir ein Fingerzeig für des Lebens Sieg.
 

1942 schreibt Schalom Ben-Chorin diese Zeilen, als sich die Schreckensmeldungen über den Krieg und die Vernichtung seines Volkes häufen. Wenn der Mann, der 1935 aus Nazi-Deutschland floh, hoffnungslos ist, tröstet ihn die leise Botschaft des Mandelbaums. Denn er blüht, wenn ringsum noch alles kahl ist und auf den hohen Hügeln rund um Jerusalem noch Schnee liegt. In Israel ist er auch heute noch ein Symbol für das neue Leben nach dem Winter.