319 5nach6 30.09.2022_Erntedank 2022 Ps 23
„Herbsttag. Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“
Wie die Blätter von den Bäumen fallen mir im Herbst auch die klassischen Herbstgedichte in den Sinn: Rilke, Herbsttag, geschrieben 1902, auswendig gelernt als Schüler, auswendig lernen lassen vor Jahren als Lehrer. Haben Sie es auch lernen müssen?
Herbsttag
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris
Gedichte können wie eine Brille sein. Man kann durch sie literaturwissenschaftlich zurückschauen auf den Dichter und seine Zeit. Man kann durch sie aber auch auf unsere Zeit schauen. Manche zeitlose Erkenntnis kann sich da aufdrängen. Doch auch der Widerspruch zwischen einem Text aus der Vergangenheit und unserer Gegenwart kann erhellend sein, Anstöße geben. In jedem Fall tritt man mit dem Blick durch die „Gedicht-Brille“ ein wenig aus der Gegenwart heraus und sieht einfach anders, genauer …
„Herr“ - der Gott, der Herr, der Herrscher ist und z.B. das Wetter regelt. So stellt Rilke sich Gott vor. Diese Vorstellung von Gott ist aktuell für mich nicht sonderlich hilfreich. Mit Politikern, die sich als „Herrscher“ verstehen, machen wir zurzeit weltweit nun wirklich keine guten Erfahrungen und die passen durchaus nicht zu meiner Vorstellung von Gott.
Ich bevorzuge stattdessen die Gottesvorstellung von Ps 23, Gott als guter Hirte, der mit mir unterwegs ist; den begleitenden Gott, der mir zur Seite ist auf grünen Auen, am frischen Wasser, aber auch im finsteren Tal und selbst im Angesicht meines Feindes.
Und doch ist Rilkes Vorstellung von Gott als eine von vielen wichtig. Weist sie uns doch darauf hin, dass Gott immer auch der Entfernte, der ganz Andere ist.
Auf den Fluren lass die Winde los …Gott als Wettermacher? Nun, heute wissen wir nicht nur mehr vom Wetter und seinem Zustandekommen, als Rilke noch wusste. Wir wissen auch, dass wir Menschen es viel stärker beeinflussen, als Rilke sich vorstellen konnte. Der Klimawandel lässt grüßen.
Wenn meine Frau sagt: „Es ist Zeit“, dann ändert sich etwas. Ein Zustand, der bis dahin andauerte, ändert sich, etwas Neues beginnt. Z.B. sind Frühstück und Zeitungslektüre beendet und die Arbeit im Garten soll beginnen. Es gibt die Zeitenwende, die unser Kanzler ausgerufen hat, also auch im Kleinformat.
Ob meine Frau, ob der Kanzler – beide ändern nichts an der Wahrheit von Ps 31:
5Ich aber vertraute auf dich, Herr. Ich bekannte: Du bist mein Gott! 16Meine Zeit liegt in deiner Hand. Rette mich aus der Gewalt meiner Feinde …! 17Lass dein Angesicht leuchten über deinem Knecht. Hilf mir und lass mich so deine Güte erfahren!
Der Psalmbeter erkennt, dass unsere Zeit grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen Lebensfeindlichkeit und Güte steht – und vertraut sich Gott ab.
Es ist also Zeit … Die Frage ist nur: Was endet? Was soll kommen?
In Rilkes Gedicht soll wohl der Sommer enden und der Herbst beginnen. Rilke dürfte die wiederkehrenden Veränderungen in der Natur vor Augen gehabt haben. Ich habe ziemlich genau 120 Jahre später am Übergang vom Sommer zum Herbst anderes vor Augen:
Der Sommer war sehr groß! Wohl wahr! Große Hitze, große Trockenheit, große Waldbrände in ganz Europa, große Zahlen von Kriegsopfern und Flüchtlingen in der Ukraine und anderswo, große Sorgen wegen Gas und Strom, große Angst vor einer Teuerung.
Und doch war die Ernte auf den Äckern, in den Gärten oft ordentlich, z.T. richtig groß!
Der Beter von Psalm 23 kennt genau diese Situation:
4Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 5Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Schatten haben wir so manches Mal herbeigesehnt an den Hitzetagen: Wohltuende Schatten, die einen abkühlen und durchatmen lassen. Doch diese Schatten haben sich eher selten auf die Sonnenuhren gelegt. Eher warfen Sorgen Schatten auf jede Uhr, auf die Zeit insgesamt!
Ja, im Angesicht von so viel Lebensfeindlichkeit leben wir – und wir leben nicht schlecht, jedenfalls noch nicht. Bei Kuchen aus prallen, saftigen, süßen Pflaumen oder Äpfeln, darauf eine Portion Schlagsahne oder abends bei einem Glas Wein ließ sich gut reden über den Krieg in der Ukraine oder anderes Unglück.
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ Hier geht es nicht darum, dass die Kosten für Häuslebauer explodieren. Es geht schlicht um Menschen, die buchstäblich kein Dach über dem Kopf haben. Menschen, die von Krieg und Unterdrückung, von Armut und Not aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben werden.
Ps 23 verspricht: „Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Das ist eine Gewissheit, die durch Vieles hindurchtragen kann. Doch leider hat dieses Haus weder vier Wände noch ein Dach! Da muss noch etwas anderes geschehen.
Das ist nicht nur eine Frage des Wohnungsbaus. Zum Behaust-sein gehört auch noch anderes. Freundschaften beispielsweise können ein ähnliches Gefühl aufkommen lassen, wie das Geborgensein in den vier Wänden.
Beziehungen … Wir hatten das beim Thema „Glück“ in den letzten Wochen mehrfach. Rilke scheint das auch wichtig. Er rät zum Briefeschreiben – andere Möglichkeiten der Kommunikation über weite Strecken gab es ja damals für die breite Masse nicht.
Und es ist eine gute Möglichkeit! Kein Satz wird einfach so hingehauen wie heute in einer WhatsApp-Nachricht. Jeder Satz wird überlegt, hin und her gewogen, bevor man ihn aufschreibt. Und am Computer kann man ihn mehrfach lesen und noch einmal ändern.
Und zum eigenen Glück gehört auch die Bewegung an der frischen Luft, auch darüber haben wir in den letzten Wochen gesprochen. Doch vermutlich ist es nicht das, was Rilke vorschwebte, als er von den unruhigen Wanderungen im Blättertreiben sprach.
Ja, manches wird uns in den kommenden Wochen und Monaten nicht wirklich zur Ruhe kommen lassen.
Vor rund zwei Wochen waren wir zu einer Taize-Andacht in St.Pankratius in Bockenem. Eines der Lieder kam mir in den Sinn, als ich von Rilkes „unruhigen Wanderungen im Blättertreiben“ las.
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht;
es hat Hoffnung und Zukunft gebracht;
es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten,
ist wie ein Stern in der Dunkelheit (EG 572)
Mit großer Wahrscheinlichkeit löst Gottes Wort als solches keines der Probleme, die uns aktuell beunruhigen. Aber es gibt Halt, Trost und Hoffnung – und damit beruhigt es. Und Ruhe ist eine Voraussetzung dafür, dass man klarer denken und Probleme angehen kann. So ein Wort ist z.B. – für mich – Ps 23. Und deshalb spreche ihn noch einmal als Gebet.