Freitags 5nach6 - Jahreslosung 2022

31. Dezember 2021

292 5nach6_31.12.21 Jahreslosung 2022                        Ps 23

Kennen Sie das? Sie kommen an einen Gruppentisch, Blicke werden gesenkt, Gesichter wenden sich ab, Gespräche verstummen. Oder „Ist hier noch frei?“ „Nein, wir warten noch auf Freunde.“ Und die kommen und kommen nicht …

Kennen Sie das? Sie kommen in eine Behörde oder haben endlich nicht mehr die nervtötende Musik einer Warteschleife im Ohr, sondern ein Mensch ist für Sie da. Nachdem Sie Ihr Anliegen vorgebracht haben, hören Sie jedoch: „Da sind Sie hier falsch!“, „Haben Sie einen Termin?“, „Tut mir leid, keine Zeit“, „Für Sie bin ich nicht zuständig“.

Der Schriftsteller Wolfgang Borchert hat seinem Kriegsheimkehrer-Drama den Titel „Draußen vor der Tür“ gegeben. Der ehemalige Unteroffizier Beckmann ist überall „außen vor“ – auch bei Gott. „Draußen vor der Tür“ – diese Zeile bringt ein unverändert aktuelles Lebensgefühl auf den Punkt. Das gibt es eben auch heute!

Dieses Lebensgefühl ruft auch tiefsitzende Bilder im Religionseckchen unseres Gehirns wach.

Die Menschen werden aus dem Paradies vertrieben. Ein Engel mit einem Flammenschwert verhindert ihre Rückkehr.

Petrus arbeitet mit den Schlüsseln zur Himmelstür als Einlasskontrolleur ins Reich Gottes. Einige dürfen hinein, andere bleiben „draußen vor der Tür“.

Und nun die Jahreslosung für 2022: Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen (Johannes 6,37).

Was heißt das? Ich werde bei Gott nicht abgewiesen. Das ist doch erst einmal eine erleichternde, ja, eine befreiende Botschaft! Ja, das ist es!

Und doch kommen mir bei längerem Nachdenken einige Fragen.

Was heißt „Wer zu mir kommt?“ Muss ich regelmäßig den Gottesdienst besuchen? Muss ich am Gemeindeleben teilnehmen, mich ehrenamtlich engagieren? Ist das mein „Ticket“ für Gott? Ist das nicht nur eine Zugangsmöglichkeit, sondern auch eine Zugangsberechtigung? „Gott, du musst mich reinlassen!“ - Und wenn ich diese Leistung, diese Vorausleistung nicht erbringe, die Bedingung nicht erfülle? 

Oder kommt es, komme ich bei Gott gut an, wenn ich bete? Geht es um das Bekenntnis zu Gott in Worten und Taten, im Lebenswandel? - Aber was ist, wenn mir Gott gegenüber die Worte fehlen? Wenn ich immer wieder kläglich scheitere? Bleibe ich dann außen vor?

Werden nur die reingelassen, die kommen und anklopfen? Werden nur die einen gnädigen Gott finden, die ihn suchen?

Ich denke, Gott ist sehr modern und denkt inklusiv, also einschließend, umfassend. Er wird die nicht abweisen, die kommen und klopfen. Klar. Aber er tut mehr! Gott macht sich auf die Socken und sucht die, die nicht kommen und nicht anklopfen!

Die Hirten auf dem Felde bei Bethlehem sind – weiß Gott – außen vor! Nicht nur räumlich, auch sozial. Sie leben am äußersten Rand der dörflichen Gemeinschaft. In Gestalt der himmlischen Heerscharen sucht Gott sie auf.

Jesus Christus erzählt reihenweise Gleichnisse vom Verlorenen! Der verlorene Sohn macht sich noch selbst auf und klopft bei seinem Vater an. Aber das verlorene Schaf?

12 … Ein Mann besitzt hundert Schafe, aber eines davon verläuft sich. Wird er dann nicht die neunundneunzig Schafe im Bergland zurücklassen? Wird er nicht losgehen, um das verirrte Schaf zu suchen?

Das Schaf, das draußen herumirrt, wird vom Hirten aktiv gesucht! Und die anderen, die schon bei ihm waren, müssen da auch mal warten.

Und es wird komplizierter: Dass das Schaf sich verlaufen hat, ist vielleicht nur die Sichtweise des Hirten. Hatte das Schaf vielleicht einfach nur die Nase voll von den anderen Schafen, dem Hund oder dem Hirten? Wollte es zu einer anderen Herde? War es einfach nur neugierig oder müde gewesen und wäre später von allein gekommen? Waren die anderen Schafe nur zu schnell gewesen und hatten nicht auf den Kollegen aufgepasst?

Wie auch immer: Der Hirte vermisst das Schaf, es liegt ihm am Herzen – aus welchem Grund auch immer es nicht da ist. Und weil es ihm am Herzen liegt, sucht er es. Und im Zweifelsfall ist es so wie auf etwas kitschigen Bildern – er trägt es zurück zur Herde.

Was bedeutet das für die Kirche – auch und vielleicht besonders im Jahr 2022?

Die Kirche Jesu Christi muss eine aufsuchende Kirche sein. Das fordert schon der sog. Missionsbefehl: „Geht zu allen Völkern (Mt 28,19). Es reicht nicht, mit verschränkten Armen sonntags um 9 Uhr darauf zu warten, dass die Kirche voll wird.

Und die Kirche Jesu Christi muss eine einladende Kirche sein. Einladend sein heißt, ganz praktisch barrierefreie Kirche zu sein, wie wir es seit zwei Jahren sind, leicht zugänglich. Aber es gibt auch andere Barrieren als unsere frühere Treppe unter dem Torbogen: unzugängliche, schwer verständliche Sprache, Rituale, die einem fremd sind, Orte, deren Gestaltung irritiert, Atmosphäre, die mich abstößt, Menschen, die mich spüren lassen, dass ich irgendwie nicht dazu gehöre …

Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.

Und was ist mit denen, die erst gesucht und geholt werden müssen? Werden sie genauso behandelt wie die anderen oder müssen die an den Katzentisch?

Das Gleichnis vom verlorenen Schaf und noch zwei Verse:

13 … das sage ich euch: Wenn der Hirte es gefunden hat, freut er sich über dieses eine Schaf viel mehr, als über die neunundneunzig anderen, ...14Genau das will euer Vater im Himmel: Kein Einziger von diesen Geringsten soll verloren gehen.«

Und wie sind wir, wie ist unsere Kirche? Vielleicht wie die Frau in der folgenden Anekdote?

Eine Frau kommt an die Himmelspforte. Petrus sagt:
“Hier kannst Du nicht so ohne weiteres rein, Du musst erst eine Prüfung bestehen.”

Die Frau fragt ganz verdutzt nach: “Was ist das denn für eine Prüfung?”

“Du musst mir ein Wort buchstabieren.”

“Welches Wort denn?”

“Liebe”

Die Frau buchstabiert das Wort und Petrus lässt sie in den Himmel.

Die Frau hilft überall mit. Deswegen lässt Petrus sie einen Tag lang seinen Job machen.

Also steht die Frau nun an der Pforte.

Da kommt ihr Mann und will in den Himmel. Er freut sich, als er sie sieht und lobt sie, dass sie so einen schönen Job hat.

Daraufhin sagt die Frau: “So ohne weiteres kommst Du hier nicht rein, Du mußt mir erst ein Wort buchstabieren!”

“Und welches?”

“Desoxyribonukleinsäuren-Esther…”

 

So sind wir – zu oft. Aber nicht Gott. Keiner wird abgewiesen oder vor unüberwindliche Hindernisse gestellt.

Und was erwartet uns „dort“, wenn wir angeklopft haben? Nun, ich denke, die Zuwendung Gottes wird am Ende nicht unkritisch sein – aber wird nicht die Hölle sein.

Dass wir bei Jesus nicht abgewiesen werden, sondern willkommen sind, das verspricht uns die Jahreslosung. Und im Zweifelsfall wird er uns suchen, auch 2022. Lassen wir uns finden, gehen wir mit, gehen wir auf ihn zu.

Aber - wir könnten ihn verfehlen, wenn wir ihn nicht auch im anderen erkennen, für den wir offen, einladend, aufsuchend und hilfreich sein sollten. Als Einzelne und als Kirche.  

Und dass das in 2022 schon losgeht in unseren Beziehungen untereinander und in Gottesbeziehung, das wünsche ich uns zum neuen Jahr.

Gebet:

Gott,
wir legen dieses Jahr zurück in deine Hände.
In deiner Liebe sei alles geborgen.
Wir danken dir für jeden Tag,
den wir aus deiner Gnade gelebt haben.
Wir danken dir, weil wir hier und jetzt
in deiner Gegenwart sind.
Gott,
Unsere Zeit steht in deinen Händen.
Schenke uns ein erfülltes und gnadenreiches Jahr.
Gib, dass wir getrost und voller Vertrauen in dieses Jahr gehen.
Deine Hand halte uns

in den Höhen und Tiefen des neuen Jahres.
Auf dich hoffen wir.
Dir vertrauen wir.
Aus: Gottesdienst feiern. Loben und Preisen, M14, 25.