Freitags 5nach6 - Es ist Krieg 4

25. März 2022

299.5 5nach6 25.03.2022_ Es ist Krieg 4            Ps 91

Quelle: Frank Muchlinsky, Loslegen, Fahrt aufnehmen, hinfallen in: 7 Wochen Ohne Newsletter Fastenmail 2, hrsg. vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Frankfurt am Main, 03/2022 – Zitate kursiv -
 

Manche Bibelverse wirken, wie aus der Zeit gefallen – ich kann dann nicht erkennen, was die mit mir zu tun haben. Dann wieder stoße ich auf einen Vers – mehr als 2500 Jahre alt - von dem ich denke: „Uralt, aber brandaktuell!“ Brandaktuell sind sie, weil sie eine Wirklichkeit bestätigen oder sich in einen provozierenden Gegensatz zu ihr stellen: Ein Gerechter fällt siebenmal und steht wieder auf, aber die Frevler versinken im Unglück. (Sprüche 24,16)

Als ich diesen Bibelvers im Newsletter zu meinem Fastenkalender fand, musste ich – natürlich – sofort an den Krieg in die Ukraine denken.

In diesem Satz waren die Rollen in meinem Kopf schnell verteilt: „Gerechte“ und „Frevler“, keine Frage, wer da wer ist! Putin ist der allein schuldige Täter, die Menschen in der Ukraine sind die Opfer.

Nun, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Natürlich ist es hilfreich, wenn man die Geschichte auf den Punkt bringen kann, am besten auf eine Person. Aber es wird der Kompliziertheit einer Situation und ihrer Entwicklung im Regelfall nicht gerecht.

Denn: Putin hat sicher Mittäter, die nicht nur hilflose Befehlsempfänger sind, sondern das Rad des Krieges ordentlich mitdrehen und daran verdienen. Und die sitzen nicht nur in Russland. Mindestens Geschichtswissenschaftler werden irgendwann fragen und forschen, ob nicht auch im Westen Fehler gemacht wurden, die zu dieser Situation beigetragen haben. Journalisten und wir Bürger/innen fragen uns das ja heute schon.

Die Wahrheit ist eines der ersten Opfer eines Krieges, denn wer weiß in diesem von Interessen gesteuerten Nachrichtenwirrwarr noch, was wahr ist. Und zu den weiteren Opfern zählen nicht nur ukrainische Soldaten/innen und Zivilisten, auch russische Soldaten/innen und deren Familien, andere Russen, die ihre Arbeit verlieren, unter inflationären Preisen leiden oder wegen kritischer Äußerungen im Lager leiden, sind ebenfalls Opfer. Gleiches gilt natürlich auch für Bürger/innen im Westen, die aufgrund der Strafmaßnahmen frieren, ihre Arbeit verlieren, ihre Heizrechnung nicht oder kaum bezahlen können. Wir müssen aber auch über den Tellerrand hinaussehen: Opfer sind auch Menschen in Afrika oder im Nahen Osten, die wegen ausbleibender Getreidelieferungen aus der Ukraine hungern – und die sich womöglich bald aus nackter Not nach Europa aufmachen.

Ein Gerechter fällt siebenmal und steht wieder auf, aber die Frevler versinken im Unglück.

Mit unserem Bibelvers kommt es noch besser. Der gesamte „Spruch“ … lautet … so:

„Du sollst dich nicht wie ein Frevler verhalten und den Gerechten in seinem Haus überfallen. Zerstör auch nicht seinen Lagerplatz auf dem Feld! Denn siebenmal mag der Gerechte stürzen und steht doch immer wieder auf. Aber wenn Frevler über ihre Bosheit stolpern, ist es mit ihnen aus.“ (Spr 24,15−16)

Ich muss mich regelrecht zusammenreißen, um mir beim Lesen nicht russische Truppen vorzustellen, die ukrainische Siedlungen und Städte angreifen und zerstören. Ich lese weiter:

„Wenn dein Feind stürzt, freu dich nicht darüber! Wenn er stolpert, brich nicht in Jubel aus! Der HERR könnte es sehen und dein Verhalten missbilligen. Dann könnte er von seinem Zorn ablassen, mit dem er gegen deinen Feind vorgeht.“ (Spr 24,17−18)

Das erscheint mir eindeutig eine biblische Warnung zu sein, dass ich mich nicht darüber freuen soll, wenn Putin einmal die Konsequenzen für sein Handeln zu spüren bekommen sollte. Und weiter geht es:

„Reg dich nicht auf, wenn es bösen Menschen gut geht! Sei nicht eifersüchtig auf die Frevler! Denn böse Menschen werden keine Zukunft haben, die Lampe der Frevler verlöscht.“ (Spr 24,19−20)

„Ja!“, durchfährt es mich, „Putins Herrschaft hat keine Zukunft!“

So sollten wir die Bibel nicht lesen. Wer die Rollen für „Frevler“ und „Gerechte“ so flott und eindeutig verteilt, verengt den Bibeltext und macht ihn zum Instrument für die eigene Meinung. Wer immer den Text schrieb, kannte weder die Ukraine noch Vladimir Putin. Ich nehme also meine gelb-blaue Brille ab und versuche, genauer hinzuschauen. Ich will dem Text gerecht werden, der mehr zu sagen hat, als ich durch meine gefärbte Brille sehen kann.

Ich beginne mich zu fragen: Was sind eigentlich „Frevler“? Was meint die Bibel, wenn sie von ihnen schreibt? Was sind „Gerechte“? Die Basisbibel, deren Übersetzung ich hier zitiert habe, erklärt das folgendermaßen:

Frevler: Menschen, die Gottes Gebote missachten und ihre eigenen Interessen gewaltsam durchsetzen.
Gerechte: Menschen, die Gottes Gebote befolgen, sodass das Leben in Gemeinschaft miteinander gelingt. (Worterklärungen der Basisbibel)

Es geht also auch um die große Spanne zwischen dem eigenen Interesse und dem Gemeinschaftswohl. Es geht um Gottes Gebote und darum, dass Menschen so egoistisch sind, dass sie vor nichts zurückzuschrecken, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Auf einmal ist da im Text viel mehr Platz als für Putin allein. Nun kann ich mich tatsächlich selbst „angesprochen“ fühlen von dem Bibeltext. Wo stehe ich denn auf der Skala zwischen Frevler und Gerechter? Gebe ich meinen Interessen den Vorrang, oder habe ich das Wohl vieler im Blick? Wie steht es um meine Rücksicht auf andere, wenn meine eigenen Interessen bedroht sind? Wie sehr sind mir Gottes Gebote eine tatsächliche Richtschnur? …

Bedrohliche Zeiten lassen uns die Welt viel zu einseitig wahrnehmen. Es ist nicht schlimm, einmal alles aus der Sicht der Menschen in der Ukraine zu sehen – im Gegenteil. Sich einmal in die Lage eines anderen zu versetzen, schärft den Blick und die Gedanken.

Genauso, wie es völlig in Ordnung ist, ab und an eine rosa Brille zu tragen. Sonst wäre das alles ja kaum auszuhalten.

Aber nur, wenn man sich der Brille noch bewusst ist, kann man sie abnehmen. Es ist nicht schlimm, sich zu verrennen oder ins Stolpern zu kommen und hinzufallen. Man muss es nur wahrnehmen! Die „Frevler“ bleiben unbeirrt und versinken im Unglück. Die „Gerechten“ merken es, stehen wieder auf und orientieren sich neu.

Und vielleicht schließen sie sich dem Gebetswunsch aus Lukas 1,79 an: „Herr, richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ Und wenn sie dann diesen Weg auch noch gehen würden …  

Gebet: (Ökumenisches Friedensgebet 2022, nach: Seesener Beobachter, 25.02.22)

Gütiger Gott, wir sehnen uns danach,
miteinander in Frieden zu leben.

Wenn Egoismus und Ungerechtigkeit überhandnehmen,
wenn Gewalt zwischen Menschen ausbricht,
wenn Versöhnung nicht möglich erscheint,
bist du es, der uns Hoffnung auf Frieden schenkt.
Wenn Unterschiede in Sprache, Kultur oder Glauben uns vergessen lassen,
dass wir deine Geschöpfe sind und
dass du uns die Schöpfung als gemeinsame Heimat anvertraut hast,
bist du es, der uns Hoffnung auf Frieden schenkt.


 

Wenn Menschen gegen Menschen ausgespielt werden,
wenn Macht ausgenutzt wird, um andere auszubeuten,
wenn Tatsachen verdreht werden, um andere zu täuschen,
bist du es, der uns Hoffnung auf Frieden schenkt ...

Schenke uns mutige Frauen und Männer,
die die Wunden heilen,
die Hass und Gewalt an Leib und Seele hinterlassen.
Lass uns die richtigen Worte, Gesten und
Mittel finden, um den Frieden zu fördern …
lass unsere Stimmen laut vernehmbar sein
gegen Gewalt und gegen Unrecht. Amen.