321 5nach6 21.10.2022_Wärme
Quelle: Ulrike Kostka (Caritas Berlin), Die Kraft der Wärme, in: Christ und Welt/DIE ZEIT 06.10.22, S.1 (Zitate kursiv)
„Sie sind ein cooler Typ!“, sagte mir mal ein Schüler. Das war ein Kompliment! Cool-Sein ist, naja, cool eben.
Eigentlich kommt das Wort ja aus dem Englischen und meint so viel wie „kalt, kühl“. Aus der reinen Temperaturangabe wurde später die Beschreibung einer Stimmung oder Geisteshaltung. Wikipedia beschreibt das genauer. Wer cool ist, bewahrt die Ruhe, hat keine Angst, lässt sich nicht aus der Fassung bringen oder nervös machen. Er (oder sie) ist kühl und lässig, ja, gelassen und souverän, d.h. über den Dingen stehend.
Im Deutschen kennen wir Ähnliches, wenn wir sagen: Da hat er einen kühlen Kopf behalten oder kühl kalkuliert. Das deutsche „kühl“ ist aber nicht so eindeutig positiv wie „cool“! Wikipedia verbindet es auch mit Bedeutungen wie „gefühlsarm, unbeteiligt, abwartend zurückhaltend“. Und wer mir „die kalte Schulter zeigt“, der ist nicht unbedingt mein Freund. Da ist mir ein warmherziger Mitmensch schon lieber.
Überhaupt reden wir ja im Moment viel über Wärme. Nachdem wir im Sommer noch über zu viel Wärme gestöhnt haben, stellt sich heute eher die Frage: Werden wir es in den nächsten Monaten warm genug haben in unseren Wohnungen?
Für unsere Kirche haben wir jedenfalls schon mal 10 weitere Decken angeschafft. Ganz cool haben wir das im Kirchenvorstand entschieden. Mir wäre es ohnehin ganz lieb, wenn wir in den Diskussionen um Wärme öfter einen kühlen Kopf behielten …
Ulrike Kostka, Caritas-Direktorin in Berlin, hat mit kühlem Kopf einen Artikel geschrieben über „Die Kraft der Wärme“. Einige ihrer Gedanken möchte ich Ihnen ans Herz legen.
Normalerweise tut Wärme einfach nur gut … Sie fühlt sich an wie die Sonne … die das Gesicht umschmeichelt - oder wie Wärmflasche, die Kuscheldecke, das Fußbad – wir kennen das. Wärme entsteht auch, wenn wir etwas Positives erleben. Uns wird warm ums Herz. Wärme ist deutlich mehr als nur ein hoher Wert auf dem Thermometer. Wär-me ist ein Gefühl, vielleicht sogar so etwas wie eine Hoffnung. Dieses Gefühl ist in den letzten Jahren tief erschüttert worden.
Corona, der Krieg von Putins Russland gegen die Ukraine. Das geschieht nicht weit weg und es ist kein Ende in Sicht. Flüchtlinge auch aus vielen anderen Ländern waren spätestens seit 2015 eine vertraute Wirklichkeit. Hinzugekommen sind die Sorgen vieler Menschen angesichts der Preissteigerungen vor allem für Lebensmittel und Energie. Um passend zum Thema eine alte Redewendung zu bemühen: Angst lässt vielen das Blut in den Adern gefrieren. Gleichwohl ist (fast) allen bewusst, dass das Leid der Menschen in der Ukraine und vieler in Russland … so viel größer ist. Putin macht Politik mit dem, was für alle Gesellschaften so wichtig ist – mit Sicherheit und Wärme. Er kalkuliert, ja, kalt.
Bislang hat Europa standgehalten. Putin hat es nicht vermocht, uns ernsthaft zu spalten. Solidarität und Gemeinsinn – christlich gewendet: Nächstenliebe – stehen dagegen. Zivilgesellschaft, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, staatliche Stellen und viele Einzelne haben geflüchtete Menschen untergebracht und betreut. Es wurde nicht lange gefragt, sondern einfach zusammengerückt oder auf andere Weise geholfen, z.B. in Mahlum. Dieses Engagement ist fantastisch. Das Wichtigste ist dabei - neben heißem Kaffee, warmen Mahlzeiten – die Erfahrung der Notleidenden, dass sie gesehen werden und wichtig sind.
Wärme geben und Wärme bekommen wird in solchen Momenten greifbar … Die Tasse mit heißem Kaffee ist das eine. Das andere aber ist das Gefühl, in Sicherheit zu sein und endlich wieder ruhig schlafen zu können – soweit die traumatisierenden Erfahrungen das zulassen. Ich kannte das alles aus Erzählungen meiner Verwandten von der Flucht am Ende des 2. Weltkriegs. Aber jetzt bin ich Zeitzeuge.
Ulrike Kostka schreibt weiter: Dort, wo ich in Berlin lebe, wohnen viele alleinstehende ältere Menschen oder Paare, von denen einer pflegebedürftig ist. Manche von ihnen scheinen kaum noch Außenkontakte zu haben. Das kann auch jüngere Menschen treffen, wie Corona gezeigt hat. Bei vielen Menschen schleicht sich Einsamkeit in die Wohnung und führt zu einer Kälte der besonderen Art. Auch auf dem Lande … leben viele in Einsamkeit … Dafür brauchen wir eine Wärmeversorgung der besonderen Art. Wie kann es gelingen, dass Menschen nicht seelisch erfrieren? … Ich wünsche mir, dass wir mehr Wärmenetze knüpfen, wo Menschen sich begegnen, aufeinander schauen oder sich einfach zum Essen und Klönen treffen. Die aktuelle Krise ist auch eine Chance, tragende Netze der Achtsamkeit zu entwickeln.
Das alles hilft auch gegen gesellschaftliche Kälte, Verunsicherungen und Existenzängste. Allerdings kann es politische Maßnahmen nicht ersetzen. Politik und Behörden arbeiten unter Hochdruck daran, Wärme abzusichern und der Energiekrise entgegenzuwirken. Dabei geht manches schief. … Viel wird über Politik geschimpft, sicherlich auch manchmal zu Recht. Mich erschreckt aber immer wieder – schreibt Kostka – mit welcher Verachtung oder Überheblichkeit über Politiker/innen gesprochen wird – eiskalt. Und so viele meinen, es besser zu wissen. So mancher ruft schon den heißen Herbst aus, dem ein Wutwinter folgen müsse. Ich bin für offene Kritik, Protest und alle Werkzeuge, die unsere Demokratie dafür bereithält. Aber gern würde ich denen, die nichts anderes kennen als z.T. menschenverachtende Politikerschelte (und Schlimmeres), eine Perspektivwechsel wünschen. … Kennst du wirklich die tragfähigen Antworten auf diese Fragen, die so noch nie dagewesen sind?
Keiner von uns kann vorhersagen, wie warm oder wie kalt der Winter wird und ob die Gasvorräte reichen. Aber wir können feststellen, dass unsere Gesellschaft Wärmevorräte hat. Dazu zählt auch das Netz unseres Sozialstaates, das sicherlich an einigen Stellen (zu) große Maschen hat, aber nach wie vor recht gut funktioniert – jedenfalls besser als in vielen anderen Ländern. Zu diesen Wärmevorräten gehören auch die Ehrenamtlichen und Menschen, die sich von Berufs wegen engagieren, aber staatliche Einrichtungen, Politik und Verwaltung. Das Fundament des Ganzen bilden Freiheit und Solidarität, die wir schätzen und pflegen sollten. Denn diese Schätze sind die Basis unserer Demokratie und damit genau das, was Alleinherrscher wie Putin und ihre Freunde vernichten wollen. Wir dürfen uns von ihnen nicht die Seele rauben lassen. Was sie fürchten, ist der Zusammenhalt einer vielfältigen und demokratischen Gesellschaft. Und wer zusammensteht, der spürt sie: die Kraft der Wärme.
Die Kraft der Wärme … Wer meint, dass diese Gedanken doch eher der Sozial- oder Gesellschaftspolitik zuzuordnen sind, weniger einer evangelischen Abendandacht, dem sei ein Blick ins Neue Testament empfohlen.
Auf seiner Reise als Gefangener nach Rom erleidet Paulus Schiffbruch. Doch die Männer wurden gerettet. In der Apostelgeschichte lesen wir (Apg 28,1):
Nach unserer Rettung erfuhren wir, dass die Insel Malta hieß.2Die Einheimischen waren überaus freundlich zu uns. Sie zündeten ein Feuer an und holten uns alle dazu. Denn es hatte angefangen zu regnen und war kalt.
Das, was Flüchtlinge aus der Ukraine oder von anderswo erleben, ist eine überzeitliche Erfahrung. Sie verbindet sie u.a. mit Paulus, dem „Chef-Theologen“ der Urchristenheit.
Nicht nur Theologie, ganz konkrete Erfahrungen sind es also, die tätige Nächstenliebe zu einem Grundanliegen unseres Glaubens machen – gerade in physikalisch messbar und sozial fühlbar „kalten“ Zeiten. Der Verfasser des Jakobusbriefes – vielleicht der Bruder Jesu – schreibt (Jak 2,14-17 i.A.):
14Brüder und Schwestern! Was nützt es, wenn jemand behauptet zu glauben, sich der Glaube aber nicht in Taten zeigt? …15Stellt euch vor, ein Bruder oder eine Schwester hat nichts anzuziehen. Es fehlt ihnen sogar das tägliche Brot.16Nun sagt einer von euch zu ihnen: »Geht in Frieden, ihr sollt es warm haben und euch satt essen. «Ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen. Was nützt das?17So ist es auch mit dem Glauben: Wenn er sich nicht in Taten zeigt, bleibt er für sich allein und ist tot (und kalt).
Gebet:
Gott, Du wendest Dich uns liebevoll zu –
von Anbeginn an.
Lass schmelzen unser Eis,
löse unsere Eispanzer an Herz und Gehirn,
dass wir uns von Dir lieben lassen.
Gott, Du unerschöpfliche Energie,
Du willst durch uns zu denen,
die hungern nach Brot, nach Zuwendung und Anerkennung.
Gott, Du zuvorkommende Liebe,
Du willst als warmer Atem in uns sein,
als Grund unter unseren Füßen,
als Wärme in unseren Händen.
Fließ doch in uns über, Du, Unerschöpflicher.
Bekehre unsere erstarrten Augen, dass wir die Anderen als Deine Freunde sehen.
Bekehre unsere eingefrorenen Ohren, dass wir sie anhören, wie Du sie anhörst.
Erweiche unsere kalten Herzen, dass wir uns in sie hineinfühlen und empfinden lernen wie Du. Ja, lass uns lieben lernen aus Dir, der Du uns annimmst.