286 5nach6_05.11.21_Wie soll ich leben? St. Martin
Nächsten Donnerstag – 11.11. – ist Martinstag! Und St.Martin ist auch so einer, der uns Antworten auf die Frage geben kann, wie wir denn leben sollen.
Seine berühmteste Legende ist hinlänglich bekannt:
Martin war ein römischer Soldat, der um das Jahr 316 nach Christus geboren wurde. An einem kalten Wintertag kehrte er in seine Garnison zurück. Erschöpft ritt er durch das Stadttor. Da sah er in einem Winkel eine zusammengekrümmte Gestalt, offensichtlich ein Bettler. Zitternd streckte ihm der Bettler eine Hand entgegen: „Bitte, Herr, helft mir. Kälte und Hunger bringen mich um!“ Der arme Mann tat Martin so leid, dass er mit dem Schwert seinen warmen Militärmantel teilte und dem Bettler eine Hälfte schenkte. Dann ritt er weiter zu seiner Unterkunft.
Die Antwort auf die Frage „Wie sollen wir leben?“ ist nach dieser Legende auch klar. Den notleidenden Mitmenschen wahrnehmen, Mitgefühl empfinden, helfen, teilen, also Gerechtigkeit üben. So weit, so gut, ja, so vorbildlich.
Für mich wirft die Legende einige weitergehende Fragen auf. Ich möchte sie einmal ein wenig anders erzählen:
Martin ritt durch das Stadttor … Der arme Mann tat Martin so leid, dass er mit dem Schwert seinen warmen Militärmantel teilte und dem Bettler eine Hälfte schenkte. Der Bettler bedankte sich und fuhr fort: „Du hättest mir auch den ganzen Mantel geben können! Wenn du in deiner Kaserne bist, bekommst du ja sowieso einen neuen.“
Unverschämt? Bauernschlau? Wie auch immer, jedenfalls bedenkenswert. Besitz und Wohlstand, Lebenschancen sind so ungleich verteilt, dass ein begrenztes Teilen u.U. zu wenig ist.
Martin ritt durch das Stadttor … Der arme Mann tat Martin so leid, dass er mit dem Schwert seinen warmen Militärmantel teilte und dem Bettler eine Hälfte schenkte. Der Bettler bedankte sich und fuhr fort: „Schau dort hinten! Wir sind noch mehr! Könnt ihr Soldaten bei eurer Kaserne nicht einen Unterstand bauen, wo wir uns den ganzen Winter über schützen und vielleicht sogar ein Feuer machen können?“
Das Teilen des Mantels ist ein wertvoller Moment, keine Frage. Aber es löst das Problem nur für einen und nur für eine begrenzte Zeit.
Martin ritt durch das Stadttor … Der arme Mann tat Martin so leid, dass er mit dem Schwert seinen warmen Militärmantel teilte und dem Bettler eine Hälfte schenkte. Der Bettler bedankte sich und fuhr fort: „Jetzt ist mir schon wärmer. Aber hungrig bin ich immer noch. Hast du nicht noch etwas Brot in deinem Beutel?“
Unbescheiden? Raffgierig? Nun, auf jeden Fall realistisch! Armut hat viele Seiten, an denen man ansetzen muss. An einer Stelle anzusetzen, schafft Linderung, aber ist noch keine Lösung.
Sicher sind noch andere Fortsetzungen denkbar.
Deutlich ist aber schon jetzt, denke ich, ein Grundproblem der Diakonie. Einzelfallhilfe – zwei Menschen in einer bestimmten Situation, einer hilft dem anderen. In einer Familie, zwischen Nachbarn und Freunden, für eine Kirchengemeinde ist das wichtig. Notwendig – aber nicht hinreichend!
Deshalb gibt es „organisierte Diakonie“ wie das Diakonische Werk. Die Mitarbeitenden dort setzen an verschiedenen Problemstellen an, können nachhaltig, längerfristig helfen, ja, wenn es gut geht, sogar zur selbstständigen Lebensführung verhelfen oder präventiv, d.h. vorsorgend handeln, sodass bestimmte Armutsprobleme gar nicht erst auftreten.
Aber auch die organsierte Diakonie stößt an ihre Grenzen. Sie kann nur dort helfen, wo sie Menschen erreicht. Sie kann nicht überall sein und ihre Mittel sind begrenzt.
Hier ist der Staat gefragt, genauer gesagt der Sozialstaat. Wie gut, dass wir in so einem Staat leben dürfen. Wenn jetzt und in den nächsten Monaten die Energiepreise stark steigen, wird er vielleicht durch einen Energiezuschuss zum Wohngeld oder zu Hartz IV den Bedürftigen helfen.
Aber dazu braucht der Staat natürlich auch Geld. Geld von uns, die Steuern. Spätestens hier zeigt sich, dass Martins Mantel-Modell, dass das schlichte Teilen – jeder zahlt das Gleiche – nicht wirklich hilft. Arme müssen gar keine Steuern zahlen, Reiche erheblich mehr. Das ist nicht gleich, aber es ist gerecht.
Eingangs hatte ich gesagt: St.Martin ist so einer, der uns Antworten auf die Frage geben kann, wie wir denn leben sollen. Die Antwort lautet mit St. Martin: Diakonisch leben.
Was heißt das? Eine Gruppe von Schüler/innen hatte sich mit der Frage beschäftigt, was 15-Jährige über die Welt wissen müssen. Das Ergebnis:
„Den Schüler/innen geht es nur in zweiter Linie um abprüfbares Wissen … sondern vor allem um die Fähigkeit, ein Leben in Achtung vor sich selbst und anderen Menschen zu führen. Zwar finden sie es auch wichtig, gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten zu besitzen, jedoch gehört für sie an erster Stelle ein Bewusstsein von Gut und Böse, von Recht und Unrecht zu haben, ein soziales Verhalten gelernt zu haben: anderen helfen, Respekt zeigen, friedlich Konflikte lösen können.“ (J.Gohde, Profile diakonisch-sozialer Bildung, in: G.Adam u.a. (Hg.), Unterwegs zu einer Kultur des Helfens – Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens, Stuttgart, 2006, S. 33)
So könnte es aussehen, wenn man diakonisch lebt. Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. St. Martin hat es uns im Kleinen vorgelebt.