Freitags 5nach6 - Reformationstag

04. November 2022

323_5nach6_04.11.22_Reformationstag                                         Ps 46

Quelle: J.H.Claussen, Reformation – die 95 wichtigsten Fragen, München, 2016 – Zitate kursiv)

Nach dem Reformationstag möchte ich Sie mitnehmen ins Arbeitszimmer von Johann Hinrich Claussen. Er ist Theologe und hat u.a. das Buch geschrieben „Reformation – die 95 wichtigsten Fragen“, aus dem ich heute auch zitiere. Und nun ins Arbeitszimmer:

Auf der Fensterbank meines Arbeitszimmers steht … ein unterarmgroßer Blei-Luther, eine Kleinausgabe der Denkmäler, die von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an ungezählten Orten in Deutschland aufgestellt wurden: der Reformator als ganzer Kerl, aufrechtes Haupt, vorgestellter rechter Fuß, die Heilige Schrift im starken linken Arm, darauf die rechte Faust. Vorn auf dem Sockel der Spruch: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“ Und dazu als … Zusatzfunktion: Im Inneren ist eine Spieluhr, die das alte lutherische Kampflied „Ein feste Burg ist unser Gott“ spielt. (163f

Wenn ich meinen Blei-Luther betrachte, fällt mir der Luther-Kult ein, den ein triumphalistisch gestimmter National-Protestantismus vor über 100 Jahren betrieben hat – eine fatale kirchliche Mode. Als ein großer Bruder meines Miniatur-Luthers im Jahr 1885 vor der Dresdner Frauenkirche aufgestellt wurde, verkündete der damalige dortige Superintendent Folgendes:

„Fest die Bibel in der Hand und die starke, männliche Rechte darauf ruhend – so steht er da, der teure Gottesmann, der Mann von Stahl und Eisen mit der Weihe des Glaubens und der Kraft, mit dem Felsenherzen eines Johannes des Täufers und mit dem Feuergeist eines Paulus, jeder Zoll ein Deutscher, ein Christ, ein deutscher Christenmensch aus einem Guss, mit dem kühnen Blick nach oben, hinauf zum alten Gott.“ (164)

Welch ein Lutherbild! Ein zu Gewalttätigkeit neigender Nationalist, von seiner national-religiösen Mission überzeugt. Kein Wunder, dass Luther im Nationalsozialismus aufs Übelste missbraucht werden konnte.

Zu Luthers 450. Geburtstag 1933, im Jahr 1 der NS-Diktatur, wurde er so präsentiert:  Luther als gottgesandter Vorbote des Führers, der die politische Notlage des Volkes überwunden und die Wiedergeburt der Deutschen begonnen habe. (162)

1983, zu Luthers 500. Geburtstag, gab es einen weiteren Versuch der politischen Vereinnahmung – in der damaligen DDR. Die DDR-Führung … behauptete, Luther sei eine frühe Leitfigur der frühbürgerlichen Revolution. Zum einen wollten die DDR-Oberen ihr System politisch stabilisieren … zum anderen sollten Luther-Touristen … dringend benötigte Devisen bringen. (162)

Claussen ist froh, dass diese Vereinnahmungen Luthers weitgehend überwunden sind. Er möchte Luther dadurch die Ehre geben, dass man über ihn (und die anderen Reformatoren) streitet … Bleibendes von Zeitbedingtem unterscheidet, um sich dann auf den Kern, die Neuentdeckung des Evangeliums, zu konzentrieren. (163)

Dabei hilft Claussen der kleine, bleierne Luther in seinem Arbeitszimmer. Er schreibt:    Er erinnert mich an Aspekte des christlichen Glaubens und Lebens, die mir immer noch wichtig sind. Da ist … die massive Sehnsucht nach einem zugewandten Gott, …

Tatsächlich? Ich denke schon, dass viele Menschen sich nach Zuwendung sehnen. Das heißt ja nichts anderes, als dass sie wahrgenommen, gesehen, gehört, wertgeschätzt werden und Hilfe bekommen möchten, wenn sie in Not geraten. Das ist in einer Gesellschaft, in der im Angesicht verschiedener Krisen der Zusammenhalt bröselt, nur zu verständlich. Soziologen sprechen von einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft. Das ist auch der Hintergrund für die Gedanken unseres Bundespräsidenten:

 "Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu", sagte er in einer etwa 45-minütigen Rede an die Nation. Auch nach diesem Winter wird es laut Steinmeier "kein einfaches Zurück zum Davor" geben. „Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung und auch die Kraft zur Selbstbeschränkung. Anstatt uns weiter auseinandertreiben zu lassen, müssen wir alles stärken, was uns verbindet" (vgl. tagesschau.de)

Ich frage mich nur, ob die Menschen das tatsächlich von einem zugewandten Gott erwarten – und von seinem „Bodenpersonal“, unserer Kirche. Besucherzahlen in Gottesdiensten u.a. kirchlichen Veranstaltungen, die Austrittszahlen sprechen eine andere Sprache.

Ich sehe heute grundsätzlich zwei Wege für unsere Kirche:

Der eine Weg: Rückzug in die vertraute Kirchlichkeit, theologische Glasperlenspiele und eine kirchlich geprägte Oberschicht-Kultur, die sich an kulturellen Spitzenereignissen selbstgenügsam erfreut. Hochkarätige Kunst in Wort, Bild und Ton machen sich breit.

Der andere Weg wäre, ja, wäre eine Reformation!

Dabei gilt es, die Grundlagen, die Fundamente des Evangeliums kenntlich zu machen. Andere Gottesdienstformate, digitale Angebote usw. können dabei hilfreich sein, aber das sind Äußerlichkeiten. Auf die Botschaft und ihre Sprache kommt es an.

Die Stiftung Marburger Medien ist eine christliche, konfessionsübergreifend tätige Stiftung in Marburg. Sie berät engagierte Christen, christliche Gemeinden und Organisationen bei der Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat mit einem Flyer versucht, die evangelische Botschaft in aller Kürze zusammenzufassen (Zitate kursiv). Einige Gedanken daraus möchte ich uns nahe bringen:

Wir leben in einer unruhigen und unbeständigen Zeit, in der wir immer größeren Herausforderungen gegenüberstehen, in der andere und wir selbst immer mehr von uns verlangen. Da herrscht oft Gnadenlosigkeit.

Die Botschaft: „Das Leben kann gnadenlos sein – Gnade ist ein Geschenk Gottes. Unverdient und überraschend. Sie sagt uns: Du bist geliebt. Mit allen Stärken und Schwächen. Mit deinen Schokoladenseiten und deinen dunklen Seiten. Mit allen Erfolgen, Misserfolgen und Überforderungen.

Wir sehnen uns danach, dass alles gut bleibt, ja, besser wird – jedenfalls nicht schlechter. Aber was ist, wenn wir Angst haben, dass es anders kommt?

Die Botschaft: Leben bedeutet Unsicherheit – Jesus Christus ist unsere sichere Grundlage. Jesus, der die Liebe Gottes zu seinen Menschen verkörpert und zur Nächstenliebe aufruft. Jesus, der voller Hoffnung ist, weil er weiß, dass Gott Gutes mit uns im Sinn hat. Jesus, der uns mit Gott verbindet und angesichts seines Todes zeigt: Vertrauen in Gott zähmt die Angst.

Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Wie begegnen wir den großen Krisen? Wie verhalten wir uns richtig? Das ist angesichts der Vielschichtigkeit der aktuellen Probleme und ihrer oft nur schwer durchschaubaren Zusammenhänge kaum belastbar zu beantworten. Komplexität des Lebens nennen Soziologen das.

Die Botschaft: Das Leben ist voll Fragen – die Bibel schenkt neue Perspektive, bietet belastbare Orientierung. Die Bibel veranschaulicht in großen Erzählungen die Liebe Gottes zu den Menschen. Die Bibel eröffnet Möglichkeiten für Liebe und Frieden, sie eröffnet Perspektiven über den Tod hinaus. Die Bibel bietet Trost, Lehre und Kritik und lebensverliebte Geschichten.

Die Welt ist nicht einfacher geworden.  Wenig scheint so richtig eindeutig. Da fordern Entscheidungen … Mut, Bewusstheit und Fehlerfreundlichkeit. … Was schenkt uns da einen sicheren Lebens-Rahmen?

Die Botschaft: Das Leben ist mehrdeutig – der Glaube umarmt das. Der Glaube lädt ein darauf zu vertrauen, das Gott da und für uns da ist. … Der Glaube lädt ein, Brücken zu bauen, … das Leben zu genießen und gegen alle Lebensfeindlichkeit aufzustehen. Glaube bewegt – hin zu Gott, zu den anderen und zu mir. … Glaube schenkt eine Heimat, in der wir uns geborgen fühlen dürfen.

Diese vier Botschaften kreisen nicht zufällig um die Begriffe Gnade, Jesus Christus, Bibel und Glaube. Es sind Luthers vier „Fundamente“ des (evangelischen) Christentums: sola gratia (allein die Gnade), solus Christus (allein Jesus Christus), sola scriptura (allein die biblischen Schriften), sola fide (allein der Glaube). Sie sind die Grundlage für einen guten Weg zu besten Beziehungen zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen, zu unserer Mitwelt und zu Gott.

Gebet: Gebet um Erneuerung der Kirche

Gott, wir danken dir,
dass in deiner Kirche
dein Geist, dein Heil und dein Erbarmen
sichtbar und unsichtbar wohnen –
Wir verbinden uns mit allen,
die enttäuscht an deiner Kirche leiden und rufen
Lass leuchten dein Angesicht, so werden wir heil!

Wir danken dir
für alle Gemeinschaft, die wir in deiner Kirche erleben,
für durchtragende Hilfe und begleitende Seelsorge –
Wir verbinden uns mit allen,
die an der Spaltung deiner Einen Kirche leiden,
die Einsamkeit und Trostlosigkeit erleben und rufen
Lass leuchten dein Angesicht, so werden wir heil!

Wir danken dir,
dass wir in deiner Kirche erfahren und lernen können, was Leben ermöglicht:
Ehrfurcht und Liebe, Treue und Glauben, Güte, Hoffnung und Gerechtigkeit –
Wir verbinden uns mit allen,
die in der Kirche Verletzung erlebt haben,
denen ihr Glaube verdunkelt
und Leben verbaut wurde und rufen
Lass leuchten dein Angesicht, so werden wir heil!

So flehen wir zu dir:
Lass deinen heiligen Geist unter uns wirken,
erneuere deine Kirche, heile das Angesicht der Erde
und schenke uns deinen Frieden ...
Amen.
 

Autorinnen: Schwestern der Communität Casteller Ring