Freitags 5nach6 - Jahreslosung 2022 II

07. Januar 2022

293 5nach6_07.01.22 Jahreslosung 2022   II                   Ps 23

Quelle: Gottesdienst-Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Dr. Thomas Melzl - Gottesdienst zum Altjahresabend und Neujahr (2021/22) (Art.-Nr.2201), Nürnberg, 2021 – Zitate kursiv

Bildquelle: Kathedrale St.Gallen, Kuppelgemälde © GettyImages, Fotograf: Adrian Assalve, Motiv auf der Kalenderkarte, Art.-Nr. 2200 © Gottesdienst-Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, shop.gottesdienstinstitut.org

Fundort im Shop des Gottesdienstinstituts: Kalenderkarte 2022 (gottesdienstinstitut.org)

Damit man merkt, dass die Jahreslosung 2022 „Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen (Joh 6,37)“ für das ganze Jahr gilt, habe ich sie als Kalenderkarte mitgebracht. Auf der Rückseite ist sie noch einmal abgedruckt, zusammen mit einem Bild.

Ganz ehrlich? So sehr mir die Losung gefällt, das Bild hat mir nicht gefallen! Mein erstes Problem: Es ist es mir zu klein. So viel auf so kleinem Raum zusammenzupressen, das ist nicht sonderlich benutzerfreundlich.

Aber hören wir zunächst, was Dr.Thomas Melzl vom Gottesdienstinstitut in Nürnberg dazu sagt, denn von dort stammt die Kalenderkarte wieder:

Die Fotografie der Kalenderkarte zeigt einen Ausschnitt aus dem großen Kuppelgemälde der Kathedrale im schweizerischen St. Gallen …

Auf einer Homepage, die sich mit dem süddeutschen Barock beschäftigt, ist zu lesen: „Das Gemälde Wannenmachers … hat die acht Seligkeiten zum Thema. Im rauchigen und spiralförmigen Wolkenband kreisen die Personengruppierungen um die zentrale Gloriole (Heiligenschein) mit der Dreifaltigkeitsdarstellung.“ Vgl. https://www.sueddeutscher-barock.ch/In-Werke/s-z/SG-Kirche.html

 

Auch auf der … Kalenderkarte ist die nach oben ziehende, spiralförmige Bewegung zum Mittelpunkt hin gut zu erkennen. Dass dabei die acht Seligpreisungen der Bergpredigt thematisiert werden, ist zunächst kaum zu erkennen. Nimmt man beide Informationen zusammen, dann könnte das bedeuten, dass die Befolgung der Seligpreisungen den Weg zum Himmel ebnet.

Hier liegen meine weiteren Probleme: „Die Befolgung der Seligpreisungen (ebnet) den Weg in den Himmel“.

Zunächst scheint es, als ob die Jahreslosung besonders für Menschen an ihrem Lebensende gilt – sie können in den Himmel zu Gott kommen.

Das Bild erinnert an sog. Nahtod-Erfahrungen von Menschen, die wiederbelebt wurden. Viele erzählen übereinstimmend davon, dass sie sich von ihrem Körper gelöst hatten und dann durch einen Tunnel hindurch auf ein helles Licht zustrebten oder gezogen wurden.

Nicht falsch, aber mir reicht es nicht, wenn die Begegnung mit Gott in Jesus Christus vor allem auf das Lebensende und in ein nebulöses Himmelreich verschoben wird. Das macht die Botschaft der Bibel angreifbar für die Religionskritik aus der „linken Ecke“. Danach ist Religion Opium des Volkes, das die Verhältnisse und die Möglichkeiten ihrer Veränderung vernebelt und die Opfer dieser Verhältnisse auf ein Jenseits vertröstet.

Als Jesus gefragt wird, wann denn das Reich Gottes und die Begegnung mit Gott kommen, da antwortet er: »Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Anzeichen erkennen kann.21Man wird auch nicht sagen: ›Schau her, hier ist es!‹, oder: ›Dort ist es!‹ Nein, das Reich Gottes ist schon da – mitten unter euch.« (Lk 17,20f) Das schließt seine Anwesenheit ein! Denn an anderer Stelle sagt er: 20Denn wo zwei oder drei Menschen in meinem Namen zusammenkommen, da bin ich selbst in ihrer Mitte.« (Mt 18,20)

Gott wird von den Juden Jahwe genannt, was man so übersetzen könnte: „Ich bin der Ich-bin-da, und zwar für dich!“ Unser Gott ist wie der Hirte in Ps 23 ein begleitender Gott, der mit uns unterwegs ist – und nicht erst am Ende auf uns wartet.

Und dann mein nächstes Problem … Wir haben gehört: „Die Befolgung der Seligpreisungen (ebnet) den Weg in den Himmel“. … (ebnet) den Weg in den Himmel. Das ist eine mögliche Interpretation des Bildes. Wenn ich also die Seligpreisungen nicht befolge, komme ich nur unter Schwierigkeiten zu Gott – oder vielleicht gar nicht?

Dahinter verbirgt sich für mich ein Leistungsdenken, genauer: ein Vorleistungsdenken, das aus meiner Sicht nicht zur Botschaft Jesu passt. Die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem hatten nichts, aber auch gar nichts vorzuweisen – und doch wird ihnen zuerst die Botschaft von der Geburt des Heilandes zuteil. „Euch ist heute der Heiland geboren!“

Besonders Menschen wie ihnen gilt die bedingungslose Einladung Jesu, wenn er ruft:

28»Kommt zu mir, ihr alle, die ihr euch abmüht und belastet seid! Ich will euch Ruhe schenken.(„erquicken“, heißt es bei Luther)29Nehmt das Joch auf euch, das ich euch gebe. Lernt von mir: Ich meine es gut mit euch und sehe auf niemanden herab. Dann werden eure Seelen Ruhe finden.« (Mt 11,28f)  

Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte die Seligpreisungen (Mt 5) für richtig gute Wegweisungen und Orientierungshilfen für das Leben: also freundlich sein, sich für Gerechtigkeit einsetzen, barmherzig sein, reinen Herzens sein, Frieden stiften, für Gottes Reich eintreten, selbst um den Preis von Spott und Verfolgung. Daran ist nichts verkehrt, natürlich nicht.

Aber was ist mit denen, die an diesen Ansprüchen scheitern?

Nun, auch ihnen gilt die Jahreslosung: „Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen!“

Dr.Thomas Melzl schreibt: Das Bild auf der Rückseite der Kalenderkarte entfaltet einen eigenartigen … Sog: man wird förmlich hineingesogen in die Mitte des Bildes. Wer unter der großen Kuppel der Kathedrale … sitzt, …, für den dürfte dieser Eindruck noch gewaltiger sein. Mit den Augen verfolgt man den Weg der Wolkenbahn von außen nach innen. Am Ende des Weges dringt man dann ins Zentrum, ins Licht vor. Man ist angekommen im Licht. Man könnte auch sagen: Angekommen bei Christus, der spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen:

… Viele Haupt- und viele Ehrenamtliche … verausgaben sich, …, und müssen dann aber unterm Strich feststellen, dass es weniger wird …, dass eben niemand kommt, obwohl Jesu Ruf in die Welt gegangen ist: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

Man kann jetzt enttäuscht seufzen oder trübsinnig werden; man kann analysieren, was alles falsch läuft oder Pläne entwickeln, was man noch besser machen kann – aber die Sache hat einen Haken: Es liegt nicht nur an uns, ob Menschen der Einladung Jesu folgen. … Womöglich stehen wir Gott … im Weg, sind vielleicht Störgeräusche auf dem Schallweg zwischen Gottes Rufen und menschlichem Hören.

Es gibt eben nicht nur das Desinteresse am Glauben, es gibt auch viele Enttäuschungen, viele Abweisungen, viele Reibeflächen, …

Manches davon mag verständlich sein, anderes dagegen unentschuldbar: sexualisierte Gewalt, wie sie nicht nur in der katholischen Kirche jetzt aufgearbeitet wird; … Die Geschichte der Kirche ist voll von „Störgeräuschen“ auf dem Schallweg zwischen Gottes Rufen und menschlichem Hören:

Das hinterlässt Spuren, prägt ein bestimmtes Bild von Kirche und Gemeinde und von den Menschen, die sich dort beheimatet fühlen, und das kann die Botschaft Jesu überlagern und verdunkeln: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

In der Erfahrung, abgewiesen zu werden, steckt immer auch die Botschaft, … nicht die Richtige, nicht gut genug zu sein, für den Job, für die Liebe, fürs Leben im gelobten Land

Schauen wir noch einmal in den Himmel oder vielmehr auf das Bild mit der Kuppel. Der Künstler öffnet uns einen Blick in eine Welt, die anders ist als alle unsere Erfahrungen. Er zeigt uns, was möglich wäre, wenn wir uns auf den Ruf Christi einlassen: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Bei ihm werde ich nicht abgewiesen, bei ihm bin ich … die Richtige, ...

Jetzt bin ich im Licht angekommen. Freilich nicht erst am Ende, wie es das Bild einreden möchte. Das Licht, das da in der Mitte strahlt, steht nicht erst … am Ende eines Lebens, am Ende der Welt. Nein, dieses Licht leuchtet immer dann auf, wenn geschieht, was Jesu Wort verheißen: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Wer nicht abgewiesen wird, wer also angenommen ist, der beginnt zu leuchten in diesem Licht.

Es ist diese Erfahrung des Angenommen-Seins, die wir täglich einüben können, wenn wir zu ihm kommen, in die Stille ganz persönlich zu ihm, um mit ihm zu reden und von ihm zu hören, um gemeinsam am Tisch mit ihm zu sitzen, seine Freundlichkeit zu spüren, wenn wir die Begegnung mit ihm in unserem Nächsten suchen.

Es ist diese Erfahrung des Angenommen-Seins, die wir machen dürfen, wenn wir etwas auf dem Kerbholz haben, wenn wir eine Last mit uns herumtragen, wenn uns etwas drückt und wir die Macht der Sünde, des Versagens spüren. Wir dürfen immer zu ihm kommen und ihm alles sagen, alles vor ihm auf den Tisch legen und offen ansprechen.

… In einer Kirche in Amerika ist es Brauch, sich mit folgenden Worten gegenseitig zu begrüßen: „Gott liebt dich und ich liebe dich auch.“ Vielleicht können wir das nicht so ohne Weiteres nachmachen. Aber die Einstellung wäre die richtige: … sich gemeinsam ins Licht stellen und den Ruf hören: du wirst nicht abgewiesen.

Und so hat mir ein Bild, das mir nicht gefällt, geholfen, einiges etwas klarer zu sehen. Aber das ist uns ja nicht wirklich neu: Manchmal lernt man besonders gut, wenn man sich an etwas abarbeiten muss, das einem widerstrebt.

 

Gebet: Gott, du versprichst uns, niemanden abzuweisen, alle sind dir willkommen:

Die Armen und die Reichen.
Die Alten und die Jungen.
Die Schwachen und die Starken.

Du wirst sie nicht abweisen.
Die Kranken und die Gesunden.

Die Geimpften und die Ungeimpften.
Die Ohnmächtigen und die Mächtigen.
Die Ängstlichen und die Mutigen.

Du wirst sie nicht abweisen.
Die Hungrigen und die Satten.
Die Traurigen und die Fröhlichen.

Diejenigen, die nichts haben, aber auch diejenigen, die alles im Überfluss haben.

Du wirst sie nicht abweisen.

Diejenigen, denen immer alles schief im Leben geht, aber auch diejenigen,
die scheinbar immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Sie alle sollen es hören: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen:

Diejenigen, die von allen übersehen werden,
aber auch diejenigen, die es gewohnt sind, im Rampenlicht zu stehen.

Sie alle sollen es hören: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen:

Diejenigen, die schweres Leid zu tragen gewohnt sind,
aber auch diejenigen, die von allem Unglück verschont bleiben.

Sie alle sollen es hören: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen:

Diejenigen, die Gott nötig haben, aber auch diejenigen, die ihn nicht nötig haben.
Und die letzteren vielleicht besonders.

Gott, dafür danken wir dir.