Der schwarze Punkt
Eines Tages kam ein Professor in seinen Kurs und kündigte einen Überraschungstest an. Er verteilte das Aufgabenblatt, das wie üblich mit dem Text nach unten zeigte. Dann forderte er seine Studenten auf, die Seite umzudrehen und zu beginnen. Zur Überraschung aller gab es keine Fragen – nur einen schwarzen Punkt in der Mitte der Seite. Nun erklärte der Professor: „Ich möchte Sie bitten, das aufzuschreiben, was Sie dort sehen Am Ende der Stunde sammelte der Professor alle Antworten ein und las sie vor. Alle Schüler hatten den schwarzen Punkt beschrieben – seine Position in der Mitte des Blattes, seine Lage im Raum, sein Größenverhältnis zum Papier usw.
Nun lächelte der Professor und sagte: „. Niemand hat etwas über den weißen Teil des Papiers geschrieben. Jeder konzentrierte sich auf den schwarzen Punkt!
Das gleiche geschieht in unserem Leben. Wir haben ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen und zu genießen, aber wir konzentrieren uns auf die dunklen Flecken. Unser Leben ist ein Geschenk, das wir mit Liebe und Sorgfalt hüten sollten, und es gibt eigentlich immer einen Grund zum Feiern – die Natur erneuert sich jeden Tag, unsere Freunde, unsere Familie, die Arbeit, die uns eine Existenz bietet, die Wunder, die wir jeden Tag sehen
Doch wir sind oft nur auf die dunklen Flecken konzentriert – die gesundheitlichen Probleme, der Mangel an Geld, die komplizierte Beziehung mit einem Familienmitglied, die Enttäuschung mit einem Freund, Erwartungshaltungen usw.
Die dunklen Flecken sind klein im Vergleich dem, was wir in unserem Leben haben, aber sie sind diejenigen, die unseren Geist beschäftigen und unseren Blick trüben. Nehmen Sie die schwarzen Punkte wahr, doch richten Sie ihre Aufmerksamkeit mehr auf das gesamte weiße Papier und damit auf die Möglichkeiten und glücklichen Momente in ihrem Leben und teilen sie es mit anderen Menschen! Ja, auch Hagar macht das. Sie sieht plötzlich mehr als nur die Wüste und ihr Elend. Sie sieht sich unvermittelt einem Gott gegenüber, erkennt einen Gott, der sie sie sieht.
Wie ist es eigentlich um unser Sehen bestellt? Was sehen wir wirklich?
Bert Brecht lässt in der Moritat von Mackie Messer in der Dreigroschenoper singen:
„Denn die einen sind im Dunkeln
Und die anderen sind im Licht
Und man sieht nur die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Genauso ist es. Dabei müssen die Übersehenen gar nicht in „finsteren“ Verhältnissen wie die Sklavin Hagar leben. Es reicht, dass ich sie einfach nicht auf dem Schirm habe, weil etwas anderes – oder ich selbst – mir wichtiger ist.
Wie in Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37)! Ein Mann auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho geriet unter die Räuber, die ihn ausplünderten und schwerverletzt liegen ließen. Ein vorüberkommender Priester sah den Verletzten und ging weiter, ebenso ignorierte ihn ein Levit, heute würden wir sagen ein Küster. Schließlich sah ein Samaritaner den verletzten Mann, erbarmte sich, versorgte dessen Wunden und transportierte ihn auf dem Esel zur Herberge. Dort gab er am folgenden Morgen dem Wirt Geld und beauftragte ihn mit der weiteren Pflege, versprach wiederzukommen und weitere Kosten zu erstatten.
Priester und Levit haben etwas anderes im Kopf und nehmen den Verletzten vielleicht wahr, aber sie sehen ihn nicht. Ihnen fehlt eine spezielle Art des Sehens, die Antoine de Saint Exupéry in seinem Buch „Der kleine Prinz“ so beschrieben hat:
Man sieht nur mit dem Herzen gut!
Es geht um anteilnehmendes Sehen! - Gott hat diesen „Blick mit dem Herzen“.
In der Erzählung von der Erschaffung von Erde, Lebewesen und schließlich dem Menschen heißt es am Ende (1Mose 1,31):
Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.
Hinter diesen empathischen, liebevollen Blick geht Gott – bei allen Problemen, die es noch gibt – nicht zurück. Das ist es, was auch Hagar spürt, wenn sie Gott anspricht und sagt: Du bist ein Gott, der mich sieht!
Und Gott bleibt dieser Gott, der mich sieht, der in mir etwas von sich erkennt, der weiß, dass ich seines Blickes würdig bin.
Wie ist es eigentlich um unser Sehen bestellt? Was sehen wir wirklich?
Wie sehe ich auf andere? Wie sehe ich mich selbst? Selbst- und Fremdwahrnehmung, das war schon ein Thema für Jesus! In der Bergpredigt (Lk 6,41 ff) fragt er:
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
Jaja, schon kleinste Mängel und Fehler beim anderen sehe ich leicht, aber meine womöglich viel schwerer wiegenden Mängel und Fehler will ich nicht wahrhaben.
Sara sieht in Hagar die Rivalin, aber ihr eigenes problematisches Spiel mit der Leihmutterschaft und was das mit Hagar, mit ihr und Abraham macht, das sieht sie nicht.
Und Hagar? Sie sieht in Sara die intrigante und herrschsüchtige Herrin, aber was ihr selbstbewusst-anmaßendes Verhalten mit der unter Kinderlosigkeit leidenden Sara macht, das sieht sie nicht.
Wie ist es eigentlich um unser Sehen bestellt? Was sehen wir wirklich?
Vor allem - wie sehe ich besser? Die Werbung sagt: Mit dem Zweiten sieht man besser!
Ich würde sagen: Mit Jesus sehe ich besser! Markus erzählt (Mk 10, 46 – 52):
46Dann kam Jesus nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Volksmenge die Stadt verließ, saß ein blinder Bettler am Weg. Es war Bartimäus, ...47Als er hörte, dass Jesus … da war, fing er an, laut zu rufen: »Jesus, du Sohn Davids! Hab Erbarmen mit mir!«48Viele fuhren ihn an: »Sei still!« Aber der Blinde schrie noch viel lauter: »Sohn Davids! Hab Erbarmen mit mir!«49Da blieb Jesus stehen und sagte: »Ruft ihn her!« Die Leute riefen den Blinden herbei und sagten zu ihm: »Nur Mut! Steh auf, er ruft dich!«50Da warf der Blinde seinen Mantel ab, sprang auf und kam zu Jesus.51Jesus fragte ihn: »Was willst du? Was soll ich für dich tun?« Der Blinde antwortete: »Rabbi, dass ich sehen kann!«52Jesus sagte zu ihm: »Geh nur, dein Glaube hat dich gerettet.« Sofort konnte er sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.
Für mich ist in unserem Zusammenhang nicht wichtig, ob das Wunder nun so stattgefunden hat. Für mich ist der letzte Satz entscheidend: Wer sehen kann, richtig sehen kann, der folgt Jesus auf seinem Weg, auf dem Weg über Kreuz und Auferstehung, auf dem Weg der Wahrheit, auf dem Weg der Liebe zu Gott, dem Nächsten und sich selbst.
Gebet:
Ein Blick in deine Augen, Jesus,
und ich kann sehen.
Ein Blick auf dein Lächeln, Jesus,
und ich bin glücklich.
Ein Blick auf deine Hände, Jesus,
und ich bin sicher.
Ein Blick auf deine Füße, Jesus
und ich kann dir folgen. Amen.