Freitags 5nach6 - Jahreslosung 1

13. Januar 2023

328 5nach6 13.01.2023_Jahreslosung                         Ps 139

Quelle: F. Kramer, Allem Augenschein zum Trotz in: Evangelische Zeitung (evangelische-zeitung.de), 01.01.23 (gekürzt und bearbeitet, Zitate kursiv); Kramer ist Friedensbeauftragter der EKD, Landesbischof der Ev. Kirche in Mitteldeutschland

Im 16. Kapitel des ersten Mosebuches lese ich von einer Frau, die gesehen wird. Hagar heißt sie und ist eine Magd. Eine Sklavin. Eigentlich also keine, die daran gewöhnt ist, gesehen zu werden und Ansehen zu haben. Sie soll für ihre Herren Abraham und Sara, denen sie dienen muss, ihr erstes Kind zur Welt bringen. Die beiden können gemeinsam zunächst keine Kinder bekommen. Hagar wird stolz darauf, dass sie schwanger ist, und lässt die kinderlose Sara dies spüren. Sara tobt.

Wir können uns vorstellen, welche Dynamik diese Dreiecksgeschichte im Hause Abrahams entfaltet. Eifersucht, Hochmut, Angst, Zorn: heftige Gefühle an allen Ecken und Enden. Abraham, der erst das Kind zeugt, überlässt es nun Sara, mit Hagar zu machen, was sie will. Hagar ihrerseits ist klar, dass sie keinen Schutz mehr hat, und sie flieht in die Wüste. Dort verdurstet sie fast.

Zum Glück entdeckt Hagar in der Wüste eine Wasserquelle. Völlig erschöpft löscht sie ihren Durst und sinkt verzweifelt zu Boden. Da erscheint ihr ein Engel (1Mose 16,8-11).

Der Engel fragte: »Hagar, …,wo kommst du her und wo gehst du hin? «Sie antwortete: »Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sara.«9Da sagte der Engel des Herrn zu ihr: »Kehre zu deiner Herrin zurück und ordne dich ihr unter!«10Weiter sagte der Engel des Herrn zu ihr: »Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann.«11Der Engel des Herrn fügte hinzu: »Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael, ›Gott hat gehört‹, nennen. Denn der Herr hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast. «

Dreimal muss der Bote Gottes zu Hagar sprechen, bevor sie selbst Worte findet. Dreimal macht er ihr Hoffnung und verspricht ihr, dass Gott sich ihr und ihrem ungeborenen Sohn zuwendet. Er verheißt ihnen eine Zukunft, allem Augenschein zum Trotz. Die jetzige Wüste ist nicht das Ende. Es gibt sogar eine Zukunft im alten Leben, Hagar geht zurück zu Abraham und Sara und bekommt dort ihr Kind.

Verzweiflung, Streit …, Flucht und Wüstenzeit – was klingt bei Ihnen im Rückblick auf das vergangene Jahr aus dieser Geschichte an? Welche Sorgen erfassen unser Herz und halten unsere Augen, wenn wir in das ungewisse neue Jahr schauen?

Dreimal muss vorher der Engel Hagar ansprechen. Einmal genügt nicht, wenn Not und Furcht nach uns greifen.

Die Stimme des Engels lässt Hagar aufhorchen und den Blick erheben. Es braucht freundliche Ansprache, Zuwendung und Zutrauen. Sie sind wie … Schlüssel zu einem Herzen, das sich aus lauter Angst und Trauer verschlossen hat. Aber dann: Eine Tür geht auf. Die schwangere Hagar öffnet sich.

Der Engel gibt dem noch nicht geborenen Sohn der Hagar einen Namen: Ismael. Das heißt: Gott hört. Der Engel sieht schon die Zukunft mitten in der dunklen Gegenwart. Darauf reagiert Hagar und nennt ihrerseits Gott beim Namen (1Mose16, 13):

Sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete:  Du bist ein Gott, der mich sieht.

… der Gott, der ansieht – welch ein Trostwort für das neue Jahr.

Die Wüste spielt eine herausragende Rolle in der Bibel, nicht nur für Hagar. Die Wüste ist dabei zum einen ein Bild für Einsamkeit, Verlassenheit, Öde, Hilflosigkeit, dafür, dass man sich preisgegeben fühlt. Aber es ist auch der Ort, an dem Gott dem Menschen begegnet. Gott scheint den Menschen mit Vorliebe in die Wüste zu führen. In der Wüste wird Moses berufen. In der Wüste wird Elias wunderbar gestärkt. In der Wüste wird bereitet sich Johannes der Täufer auf seine Sendung vor. Christus wird vom Geist in die Wüste geführt. Paulus verbringt nach seiner Berufung drei Jahre in der Wüste.

Wenn es dem Menschen gut geht, wenn er glücklich ist, denkt er eher selten an Gott. Gott lässt sich wohl am ehesten dort treffen, wo der Mensch am Ende ist. Im Erlebnis der eigenen Nichtigkeit, wenn er auf Null gestellt ist, erinnert sich der Mensch eher an Gott – und erfährt … die Hilfe Gottes.

Hagar erfährt genau das in der Wüste. …

Ismael wird – so die Legende - der Stammvater der Araber und der Sohn der Sara, der doch noch wunderbarerweise geboren wird, heißt Isaak und wird zum Stammvater des jüdischen Volkes. Zwei Söhne, die in Streit sind, zwei Völker, die sich bis heute nicht freundlich ansehen.

Wie kann es nach Krieg und Gewalttaten, wie kann nach Hass und Verachtung, nach Wüstenzeit der Beziehungen gelingen, einander wieder anzusehen, so wie Gott uns ansieht?

Das fragen wir gerade auch mit dem Blick in die Ukraine mit Sorge. Wann endet der Brudermord endlich? Wann schweigen die Waffen und wann werden sich die Feinde wieder ansehen können? Zuerst muss sich der Blick ändern. Gott sieht die Brüder beide an, so wie er Hagar angesehen hat. Der Gott, der uns alle liebevoll ansieht, ist ein Gott des Friedens, der meinen Feind genauso ansieht wie mich.

Übrigens kann man hier einmal sehen, welche dramatischen Folgen eine bestimmte Übersetzung und Interpretation einer Bibelstelle haben kann: 1Mose 16,12 lautet:

12Dein Sohn wird heimatlos sein wie ein Wildesel. Er wird mit allen im Streit liegen und getrennt von seinen Brüdern wohnen.«

Vor allem in der jüdischen und muslimischen Welt gilt Ismael als der Stammvater der Araber. Dieses Bild vom heimatlosen, aggressiven Wildesel, der mit anderen nicht auskommt, wird gerne bemüht, um den Muslimen, speziell den arabischen, einen grundsätzlich aggressiven Charakter zu unterstellen. Das wirkt hinein bis in den Konflikt zwischen jüdischen Israelis und muslimischen Palästinensern!

In der … christlichen Tradition ist das Verständnis der Geschichte durch die Auslegung bestimmt, die Paulus (Gal 4,21-31) aufgeschrieben hat. Sie ist von einem scharfen Gegensatz zwischen Hagar/Ismael und Sara/Isaak geprägt. … fortan ist Ismael eine aggressiv feindliche Figur, gewissermaßen der bedrohlich dunkle Schatten der Erwählung Isaaks … Außerdem wurde in dieser Tradition hervorgehoben, Ismael sei ein wilder und gefährlicher Mensch gewesen (Gen 16,12). 

Der Wildeselspruch, …, ist dagegen ein Verheißungswort und kein Gottesfluch. Er hält fest, dass Ismaels Nachkommen stolze Wüstenbewohner werden, die sich keinem Joch beugen, genauso wie die scheuen und freiheitsliebenden Wildesel. Die europäischen Bibelübersetzungen lassen den Tiervergleich weg und übersetzen „Er wird ein wilder Mensch sein“ (Lutherbibel bis zur Revision 2017). Dabei kennt die Erzählung keinen Konflikt der Brüder.

So steht Ismael auch während des Bundesschlusses (Gen 17) neben dem Völkervater Abraham unter dem Segen und der Verheißung des Abrahambundes, der allen Nachkommen Abrahams gelten soll (V.4-8). Deshalb wird Ismael auch mit den Segensverheißungen dieses Bundes (V.20) hineingenommen. (Th.Naumann, Hagar und Ismael in der Abrahamerzählung, in: RPI Loccum, Loccumer Pelikan, 4/2022, S. 18ff)

Ich staune über die biblischen Geschichten, die uns erzählen, wie beständig der liebende Gott sich den Menschen zuwendet. Am liebsten wendet er sich denen zu, die am Rand stehen. Die verschwunden sind, vergessen wurden. Er sieht sie, genau sie, die wir oft und gern, zu oft zu gern übersehen … oder die, wenn es nach uns geht, am besten ganz verschwinden sollen ...

Wie kann das angehen, dass Gott mich sieht? Kommt dann auch ein Engel zu mir wie zu Hagar? Wir müssen uns vielleicht von alten Bildern lösen, um das zu erleben. R.O.Wiemer dichtete „Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel“.

 

Die Engel – Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein

 

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.

Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.

Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
und hört, wenn du ihn rufst, in der Nacht,
der Engel.

Er steht im Weg und er sagt: Nein,
der Engel.
Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein –
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.

Gebet:

Guter Gott, im Vertrauen darauf,

dass du uns auch in den Wüsten unseres Lebens begleitest, bitten wir dich:

Dort, wo Menschen miteinander streiten, kämpfen und sich bekriegen:

Lass in ihren Wüsten Blumen der Versöhnung und des Friedens wachsen.

Dort, wo Menschen unter Sorgen und Ängsten, Krankheit und Verzweiflung leiden:

Lass sie in ihren Wüsten Oasen der Zuversicht und Hoffnung finden.

Dort, wo Menschen Durststrecken ertragen und mit Verlusten leben müssen:

Lass in ihren Wüsten Quellen der Ermutigung aufbrechen.

Dort, wo Menschen nicht mehr ein noch aus wissen und sich im Leben verirrt haben:

Lass sie in ihren Wüsten Wegweiser zur Orientierung finden.

Du bist ein Gott, der in unseren Wüsten bei uns ist und uns sieht. Du kannst unsere Wüsten mit Leben erfüllen. Dafür danken wir dir. Amen.