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Wenn ich mir die explodierenden Corona-Zahlen deutschlandweit, aber eben auch in Bockenem anschaue, wenn ich sehe, was diese Krankheit mit uns und unserem Land macht, dann verfinstert mir das die Adventszeit einigermaßen. Da ist es wichtig, dass wir heute eine weitere Kerze an unserem Adventskranz anzünden, damit wir Licht sehen. (2. Kerze anzünden!)
Ein Volk, das in der Finsternis lebt … Sind wir das? - Irgendwann um 700 v.Chr. hatte der Prophet Jesaja den Eindruck, dass sein Volk auf jeden Fall in der Finsternis lebte. Er stellte den Menschen ein hoffnungsvolles Bild vor Augen – und daraus wurde eine der schönsten biblischen Lesungen der Weihnachtszeit (Jesaja 9, 1 – 7 i.A.):
Das Volk, das in der Finsternis lebt, hat ein großes Licht gesehen. Es scheint hell über denen, die im düsteren Land wohnen. Gott, du lässt sie laut jubeln, du schenkst ihnen große Freude. Sie freuen sich …, wie man sich bei der Ernte freut. … Zerbrochen hast du das drückende Joch (also die Last, die drückt), … Denn uns wurde ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt worden. Ihm wurde die Herrschaft übertragen. Er trägt die Namen: wunderbarer Ratgeber, starker Gott, ewiger Vater, Friedefürst. Seine Herrschaft … bringt Frieden ohne Ende. Er … schafft Recht und Gerechtigkeit. … Gott bewirkt das in seiner leidenschaftlichen Liebe (zu seinem Volk).
Was für eine Verheißung, traumhaft! Jesaja will die Menschen in den Finsternissen seiner Zeit wieder aufrichten – und er will sie auf Trab bringen, in Gang setzen! Sie sollen sich aufmachen und ihren Weg im Bündnis mit Gott gehen.
Ein verheißungsvolles Licht, ein Aufbruch, ein Weg auf der Suche nach Gott, ein Weg mit Gott … das erinnert natürlich gleich an ein anderes Licht, nämlich an den Stern von Bethlehem, von dem der Evangelist Matthäus erzählt (Matthäus 2, 9ff bearbeitet):
… die Sterndeuter … machten sich auf den Weg. Der Stern, …, ging vor ihnen her. Dann blieb er stehen, genau über der Stelle, wo das Kind war. … sie waren außer sich vor Freude. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter.
Das Problem, mein Problem mit derartigen Hoffnungserzählungen ist Folgendes: Ja, sie wecken Hoffnung, gerade in finsteren Zeiten. Ich bin geneigt, die Augen zu schließen, davon zu träumen, wie es ist, wenn diese Hoffnungen Wirklichkeit werden.
Aber was ist, wenn ich die Augen wieder öffne?
Wie wird aus den 100-€-Scheinen der strahlenden Hoffnung das Kleingeld zur hoffnungsvollen Bewältigung des Alltags? Welches Licht, welcher Stern leuchtet uns im Alltag. Wie wird die Finsternis wenigstens zeitweise heller?
Willi Fährmann hat das in einer seiner Erzählungen beschrieben. Übrigens – ein interessanter Mann, dieser Willi Fährmann. Wikipedia weiß über ihn:
Lehre als Maurer, Begabtensonderprüfung, Studium der Pädagogik. Ab 1953 Lehrer an einer Volksschule in Duisburg, Schulleiter, später nebenher Schriftsteller, bis zu seiner Pensionierung Schulrat. Willi Fährmann starb im Mai 2017 im Alter von 87 Jahren. „Der Pädagoge Fährmann holte die Zeitgeschichte in seine Jugendbücher hinein.“
Willi Fährmann, Ein Stern geht auf
Mitten auf dem Schulhof lag er im Schmutz. Gegen Ende der großen Pause hob Regina ihn vom Boden auf. Es war ein Weihnachtsstern, aus braunem Lebkuchenteig gebacken und mit Zuckerguss dick überzogen.
In der Klasse legte Regina den Stern vor Frau Tiltfuchs auf das Lehrerpult. „Den habe ich auf dem Schulhof gefunden“, sagte sie. „Den hat jemand weggeworfen“, sagte Karolin. „Der ist schmutzig, den kann niemand mehr essen“, sagte Ferdi.
„Wenn einer richtig Hunger hat, dann würde er ihn doch essen“, behauptete Regina. „Bäh! Ich würde ihn nie in den Mund stecken“, sagte Ferdi.
Frau Tiltfuchs hörte den Kindern eine Weile schweigend zu. „Wer hat denn von euch schon einmal einen richtigen, großen Hunger gespürt?“, fragte sie schließlich.
Einige Finger fuhren in die Luft. „Ich musste mal ohne Abendessen ins Bett.“ „Wir
haben mal im Sommer bei einem Ausflug unseren Picknickkorb vergessen.“ „Wir haben Tante Emmi besucht. Aber sie hat uns nichts zu essen angeboten.“
„Wart ihr so hungrig, dass ihr den Stern gegessen hättet?“, wollte Frau Tiltfuchs wissen. Die Kinder schüttelten den Kopf (...) Da erzählte Frau Tiltfuchs die Geschichte vom kleinen Sindra Singh, der in Indien lebt und der ungefähr so alt ist wie die Kinder in der 3b.
Jeden Tag bekommt Sindra (...) eine Handvoll Reis. Das sind ungefähr 350 Reiskörner. Sindra hat sie gezählt. 150 isst er, sobald er den Reis (...) bekommt. 100 Körner steckt er in den Mund, wenn die Sonne ganz hoch steht. Den Rest hebt er auf, bis die Sonne die Erde berührt. Manchmal mogelt er und beginnt zu essen, wenn die Sonne noch hoch in den Bäumen hängt.
„Was meint ihr“, fragte Frau Tiltfuchs, „ob Sindra den Lebkuchenstern essen würde?“ (...) „Und hier liegt der Stern auf dem Schulhof. Im Dreck liegt er, auf dem Boden!“ „Mein Opa hat gesagt, Brot darf man nicht wegwerfen“, berichtete Mathilde. „Er sagt, das hat er von seinem Vater gelernt. Der war in Kriegsgefangenschaft.“ „In Afrika hungern die Menschen auch“, sagte Ferdi. „Und in Brasilien auch. Da hat es zwei Jahre lang nicht geregnet“, wusste Karolin. „Mein Onkel hat aus Anatolien geschrieben“, berichtete Zeki. „Es hat dort ein Erdbeben gegeben und die Menschen haben kaum noch etwas zu essen.“-
Marie hatte bislang gar nichts gesagt. Jetzt meldete sie sich. „Wir haben doch gestern Abend bei der Adventsfeier für die Eltern gesungen“, sagte sie. „Und wir haben Geld gesammelt. Davon könnten wir ein Paket packen.“ (...) „Übermorgen fährt ein Laster von der Kirche in das Erdbebengebiet“, sagte Karolin. „Der nimmt das Paket sicher mit.“
Die Kinder waren begeistert. Sie schrieben an die Tafel, was sie alles in das Paket packen wollten: Schokolade …, Mehl, Zucker, Gebäck, Konserven und und und ...
Als es zur Pause läutete, wusste jedes Kind in der Klasse, was es am Nachmittag für das Paket einkaufen sollte. Das war die einzige Hausaufgabe an diesem Tag.
Zum Schluss hielt Frau Tiltfuchs den Lebkuchenstern hoch. „Irre ich mich oder leuchtet er jetzt ein bisschen?“ Die Kinder meinten auch, dass er ein wenig heller aussehe.
Die Lehrerin ging ziemlich müde, aber zufrieden nach Hause. Am Abend schrillte das Telefon. Herr Semmelweid, der Vater von Ferdi, beschwerte sich. Das Geld sei für die Klasse gesammelt worden. Es sei für das Papier gedacht und für Farbstifte. Das Geld solle der 3b zugutekommen und nicht zum Fenster hinausgeworfen werden.
Frau Tiltfuchs wandte ein, dass die Kinder auf die Idee gekommen waren, mit dem Geld etwas Gutes zu tun. Herr Semmelweid sagte, dass die Schule dazu nicht da sei.
„Aber der Stern, Herr Semmelweid, hat Ferdi denn nichts von dem Stern erzählt?“ „Stern?“, sagte Herr Semmelweid: „Was für ein Stern?“ „Na“, sagte Frau Tiltfuchs hilflos, „der Lebkuchenstern. Der fing irgendwie an zu leuchten, als die Kinder auf den Gedanken mit dem Paket kamen ...“ „Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?“, schimpfte Herr Semmelweid. „Ich werde andere Schritte unternehmen. Den Schulrat werde ich ...“
„Fragen Sie doch Ihren Ferdi mal nach dem Stern. Der hat es auch gesehen!“, konnte
Frau Tiltfuchs noch einwenden, da hatte Ferdis Vater den Hörer schon aufgelegt.
Am nächsten Morgen ging die Lehrerin bedrückt zur Schule. Ihr Mann hatte sie zwar getröstet und vorgeschlagen, notfalls die Lebensmittel für das Paket selbst zu bezahlen, aber Frau Tiltfuchs fand, es sei nicht dasselbe.
Auf dem Schulhof rannte Ferdi ihr entgegen und reichte ihr einen Brief. Hastig riss sie den Umschlag auf. Fast wäre der Geldschein, der darin steckte, auf den Boden geflattert. Ein paar Zeilen hatte Herr Semmelweid dazugeschrieben. „Sehr geehrte Frau Tiltfuchs“, stand da. „Ich habe meinen Sohn Ferdi genau befragt. Ich weiß zwar immer noch nicht, ob es richtig ist, was Sie vorhaben, aber es kam mir so vor, als ob das Leuchten des Sternes noch in Ferdis Augen zu sehen war. Entschuldigen Sie, bitte, meinen Anruf von gestern. Meine Frau sagt häufig, ich sei ein hitziger Typ. Ihr Egon Semmelweid.“
Am Tag darauf fuhr der Lastwagen mit vielen Paketen nach Anatolien. In dem Paket der 3b lag ein Brief. „Frohe Weihnachten!“, stand darin. Alle Kinder hatten ihre Namen daruntergeschrieben. „Irgendwo in Anatolien wird ein Stern aufgehen“, sagte Frau Tilfuchs.
Mit freundlicher Erlaubnis des Autors veröffentlicht in: Dirk Schliephake (Hg.), 12 kreative Gottesdienste mit Mädchen und Jungen ISBN Print: 9783525630310 — ISBN E-Book: 9783647630311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, Fundort: 12 kreative Gottesdienste mit Mädchen und Jungen (doczz.com.br)
„Der Pädagoge Fährmann holte die Zeitgeschichte in seine Jugendbücher hinein,“ habe ich vorhin gesagt. Was für eine Geschichte würde Willi Fährmann heute – in Corona-Zeiten – schreiben?
Gebet (in Anlehnung an das Lied „Stern über Bethlehem“)
Gott, lass auch für einen Stern aufgehen,
lass es hell werden in uns
und zeige uns Wege,
Wege zur Krippe,
Wege, auf den wir das Licht des Sterns weitertragen können –
nach Haus und in unsere Welt.
Und sei du mit uns auf diesen Wegen. Amen