Freitags 5nach6 - Spielräume gewinnen 4

04. Februar 2022

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Welch ein Glücksgefühl für die beiden – Mutter (oder Vater, das ist nicht eindeutig, finde ich) und Kind, beide haben einander, sind ganz bei sich und beieinander.

Und dann ist da der Satz von Fulbert Steffensky, dem Mann der verstorbenen Theologin Dorothee Sölle, selbst Theologe und Religionspädagoge: Glück ist, sich vergessen zu können.

Auf den ersten Blick passten Bild und Satz für mich überhaupt nicht zueinander! Aber oft ist es ja so, dass aus so einem Widerspruch, so einem Spannungsverhältnis interessante Gedanken erwachsen. Schau’n wir mal … 

Zum letzten Mal möchte ich heute mit Ihnen mit Hilfe einer Bildkarte des Nürnberger Gottesdienstinstituts in die ersten Wochen des Jahres einsteigen. Sie zeigen Bronzefiguren der Kemptener Kirchenmalermeisterin Annette Zappe. Mit ihren Figuren – so schreibt sie selbst – spürt sie im Wechselspiel von Figur und Raum den existenziellen, grundlegenden Fragen des Lebens nach (S.4).

Die heutige Figur trägt den Titel „Zweieinigkeit“. Die Andacht selbst trägt – wie die Postkarte, die Sie in Händen haben - die Überschrift „beglückt“.

Glück ist, sich vergessen zu können … klingt irgendwie komisch. Passt nicht so recht in eine Zeit, in der Selbstverwirklichung (manchmal um jeden Preis!) großgeschrieben wird, Rücksichtnahme und Solidarität als Schwäche und Herdengehorsam gelten, in eine Zeit der Ich-AGs, in eine Zeit, in der jeder sich selbst der Nächste und seines Glückes Schmied ist.  

Glück ist, sich vergessen zu können … Kommt jetzt wieder das rechtsextreme, nationalsozialistische „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ hoch? Davor bewahre uns Gott!

Glück ist, sich vergessen zu können … Wird hier dieses Aufgehen im Dasein für andere gefordert? Das mündet dann vielleicht in Helfer-Syndrome. Die enden u.U. damit, dass Helfer/innen als Einzelpersonen immer unkenntlicher werden und sich schaden, weil sie sich im Dasein für andere erschöpfen?

Dürfen wir nicht an uns denken, nach unserem persönlichen Glück streben?

Das Wort „vergessen“ im Zusammenhang mit unserem Bild hat in mir das Wort „selbstvergessen“ wachgerufen.

Wenn ein Kind selbstvergessen spielt, ist es ganz bei sich, in sich, gleichzeitig aber auch außer sich und voll und ganz in das Spiel eingetaucht.

Mutter/Vater und Kind auf unserem Bild sind einerseits ganz bei sich. Aber es ist für mich nicht so ein egoistisches Kreisen um sich selbst. Es ist eine Versunkenheit in sich selbst und den anderen Menschen zugleich. Sie finden sich in sich und im anderen zugleich. Ich denke, dass das gut zum Titel der Figur passt „Zweieinander“.

Wer schon einmal so ein kleines Kind länger getragen hat, der weiß, dass hier z.B. wechselseitig Wärme gegeben wird.

Wer schon einmal so ein kleines Kind länger getragen hat, der weiß, dass der eine sich getragen und gehalten fühlt; der andere aber fühlt sich nicht einfach nur belastet, er weiß zugleich, dass er Halt und Geborgenheit geben kann, das ist ein gutes Gefühl! Und zusätzlich empfängt die Wärme und Zuneigung des anderen. Dieses Wissen, dieses Gefühl macht die Last erheblich kleiner. Wenn man es buchhalterisch formulieren will, wird aus der Belastung unter Hand ein Gewinn.

Glück ist, sich vergessen zu können … ja, und dann sich und sein Glück im anderen wiederzufinden, beieinander, zweieinander … Das ist wohl Liebe …

Der Mönch und Schriftsteller Thomas Merton hat seinem bekanntesten Buch den Titel gegeben „Keiner ist eine Insel“. Keiner kann für sich allein leben; existieren vielleicht, aber leben – ich fürchte, nein. Folglich lautet der Untertitel von Mertons Buch auch „Betrachtungen über die Liebe“.

Er nimmt damit einen Gedanken aus der Schöpfungserzählung des AT auf (1.Mose 2:18). Gott sieht Adam und er weiß: … »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen – ein Gegenüber, das ihm entspricht.«

Gott weiß, was der Single Adam braucht. Einen anderen Menschen. Ein Gesicht, das ihn anschaut, auf ihn reagiert und ihm Antwort geben kann. Eine Hilfe bei allem, was er nicht allein bewältigen kann.

Auch die sog. Glücksforschung ist sich einig: ein Netz tragfähiger sozialer Beziehungen –über den familiären Rahmen hinaus – ist eine wichtige Voraussetzung für ein glückliches Leben.

Eine Schulhofweisheit lautet: Allein machen sie dich ein. Ein Kanon, den ich vor vielen Jahren kennengelernt habe, führt diesen Gedanken weiter. Sein Text lautet: Einsam bist du klein, aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein!

Anwalt des Lebendigen sein, für das Leben eintreten, gemeinsam – was für ein schönes Bild! Und wie gut es zu unserem Bild passt!

Einsam bist du klein. Einsamkeit ist ein Problem! Neun Millionen Briten gelten als einsam. Als erstes Land weltweit hat Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen. Seit 2018 koordiniert es die Versuche der Regierung, Menschen aus der Isolation und der Anonymität zu holen.

Jesus ermuntert in der Bergpredigt zum Beten, zum Gespräch mit Gott: »Bittet und es wird euch gegeben! Sucht und ihr werdet finden! Klopft an und es wird euch aufgemacht! Denn wer bittet, der bekommt. Und wer sucht, der findet. Und wer anklopft, dem wird aufgemacht (Mt 7,7f). Das funktioniert nicht nur im Verhältnis zu Gott, das funktioniert außerdem zwischen Menschen!

Das ist auch gut gegen Einsamkeit. Vielleicht sogar besser als ein Einsamkeitsministerium.

Meine Erfahrung – nicht zuletzt hier in Königsdahlum – ist: „Bittet und es wird euch gegeben! Sucht und ihr werdet finden! Klopft an und es wird euch aufgemacht! Denn wer bittet, der bekommt. Und wer sucht, der findet. Und wer anklopft, dem wird aufgemacht.“

In meinem Kollegium in Lamspringe war das ebenso. Wir haben nicht nur vor uns hin unterrichtet, sondern haben Kollegialität gepflegt, z.T. auch über das Dienstliche hinaus. Ein Ergebnis ist heute: Wir Pensionäre treffen uns als „Silberrücken“ – wie die alten Gorillas genannt werden, haben eine Frühstücks- und eine Doppelkopfrunde. Wir pflegen natürlich unsere Erinnerungen, aber wir diskutieren auch die kleinen persönlichen und die großen politischen Fragen der Gegenwart.

Ein zweites Feld ist die Nachbarschaft. Jeder hat immer Nachbarn. Und die sind manchmal gar nicht so garstig, wie es im Blick durch den Maschendrahtzaun zu sein scheint. Sie haben doch dieselben Bedürfnisse nach Gemeinschaft. Also gilt es, wenn nicht sowieso ein gutes Nachbarschaftsverhältnis existiert, den ersten Schritt zu tun mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.

Der dritte Weg, Einsamkeit zu verhindern, ist, sich mit seinem Denken und Handeln in einen größeren sozialen Zusammenhang zu stellen. Ob nun ein Verein, eine Bürgerinitiative oder eine Kirchengemeinde, überall kann ich Menschen finden und Teil einer Gemeinschaft werden, mich für etwas engagieren – eben „Anwalt des Lebendigen sein“.

Und viertens – und das ist für uns Ältere nicht selbstverständlich: Nutzen wir die modernen Medien. Natürlich kann man Briefe hin und her schicken oder telefonieren. Aber eine Whatsapp-Nachricht mit einem angehängten Bild oder einem kleinen Filmchen, ein Bildtelefonat über Skype erweitert diese Möglichkeiten, einander näher zu sein.

Meine Mutter hat im Alter von 93 Jahren von ihrem Enkel ein Smartphone geschenkt, eingerichtet und erklärt bekommen. Sie nutzt vielleicht 10% der Möglichkeit, die dieses Gerät bietet, höchstens. Aber sie freut sich riesig, wenn sie ihren Urenkel laufen lernen sieht oder ihn in einem Skype-Telefonat brabbeln hört.

Was tun gegen die Vereinsamung und für das Leben? Unser Bild gibt Antworten: Den anderen wahrnehmen, Anteil an seinem Ergehen nehmen, da sein für den anderen, einander Wärme, Halt und Geborgenheit geben.

Franz von Assisi wird ein Gebet zugeschrieben, dass wunderbar passt:

„Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich Liebe übe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht;
dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt;
dass ich die Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo die Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten:
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer da hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen,
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.