399_5nach6_25.10.24_Reformation Turmerlebnis Ps 71
Quellen: (1) A.Malessa, Hier stehe ich, es war ganz anders, Holzgerlingen, 2016, S.101- 106
(2) M.Käßmann u.a., 95 x Reformation, Hamburg, 2017, S.115f
(3) S.Niemeyer u.a., Brot und Liebe, Leipzig, 2022, S.192 (Zitate kursiv)
War das für Sie auch so ein tolles Grundschulerlebnis? Endlich lesen können! Endlich die HÖR ZU – Bildergeschichten der 60-er Jahre mit dem Igel Mecki, Charly Pinguin und dem müden Schrat selber lesen zu können? Schritt für Schritt sich auch die Außenwelt erschließen zu können – Zeitungsüberschriften, Plakate, Schilder …
Aber mit dem Lesen kamen auch die Irrtümer. Wie oft hatte ich diese gelben Schilder gesehen – vorzugsweise in Garagen - auf denen ich in schwarzer Schrift las: Rauchen und offenes Feuer plötzlich verboten! Merkwürdig! Was mochte da passiert sein, dass plötzlich so ein Verbot an zahlreichen Stellen in Hildesheim und auch in anderen Orten ausgesprochen worden war? Hatte es an all den Stellen gebrannt?
Kennen Sie das auch? Man steht vor einem Rätsel, einer bohrenden Frage – oft jahrelang. Dann legt man sich eine Erklärung zurecht. Und nach langer Zeit fällt es einem wie Schuppen von den Augen! Man hat sich geirrt, es ist ganz anders! Die mühsam zurecht gebastelten Erklärungen sind hinfällig!
Mir ist das so ergangen, mit jenen Schildern. Nach langer Zeit und genauerem Hinschauen erkannte ich: Die gelben Schilder verboten das Rauchen nicht „plötzlich“, weil vor her etwas Schlimmes passiert war. Nein, das Rauchen war vorsorglich „polizeilich“ verboten, damit eben nichts passierte! Das war ein echtes Entdeckungserlebnis!
Martin Luther ist es ähnlich ergangen. Allerdings waren sowohl sein Irrtum als auch seine Entdeckung viel schwerwiegender als meine.
Der 23-jährige Martin steht im Erfurter Kloster nachts um drei Uhr auf, um das Morgengebet zu sprechen. Es folgen Gebetszeiten im Dreistundentakt, es gibt wenig und einfaches Essen, die Zellen sind kalt, der Blick soll demütig gesenkt sein … Luther hofft, durch Askese (Verzicht, Einfachheit, Enthaltsamkeit) und Versenkung im Gebet eine beglückende Vereinigung der Seele mit Gott zu erleben. Er empfindet aber einen immer größeren Abstand zwischen dem suchend-unvollkommenen Menschen und dem ewig-allmächtig-erhabenen Gott.
Der junge Mönch ist überzeugt, dass der Mensch zur Vollkommenheit berufen ist. Er stellt aber fest: Das erreicht niemand. Niemals. Weil der Mensch Fehler macht, das Falsche ersehnt, das Böse auslöst, kurz: weil er ein Sünder ist. Er kann noch so viel beichten und büßen - dem zornigen, fordernden, herrischen Gott wird das nie genügen …
Als Luther mit 27 ins Kloster nach Wittenberg komm, lernt er dort einen väterlichen Freund kennen, … Johann von Staupitz. Der sagt ihm auf den Kopf zu: „Nicht Gott zürnt dir, Martinus, sondern du zürnst Gott!“ Staupitz ermuntert Luther, statt über … die Frage zu grübeln „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“, lieber eine handfeste Doktorarbeit zu schreiben.
Luther promoviert, bekommt den Lehrstuhl für Theologie … und hält 1515 eine Vorlesung über den Römerbrief. Bei der Vorbereitung stolpert er über Römer 1, 17: „ Denn da wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt … Der Gerechte wird aus Glauben leben …
Luther schreibt später: Da endlich! Nach tage- und nächtelangem Nachsinnen kam es mir. Jetzt verstand ich, was Gottes Geschenk heißt: Die Gerechtigkeit Gottes ist das Geschenk, das den Menschen gerecht macht!“
Also nicht sein religiös-moralisches Bemühen macht den Menschen lieb Kind bei Gott. Gott ist es selbst. Er kommt von sich aus und aus Liebe in Jesus Christus zur Welt. Er versöhnt die unvollkommene Welt mit den Ansprüchen seiner Gebote.
Wie? Indem er durch Jesus Christus stellvertretend verzeiht und vergibt, was kein Mensch jemals wiedergutmachen oder abbüßen könnte. Diese ‚Gnade‘, diese „Rechtfertigung des Sünders‘ ist nach menschlichen Maßstäben, juristisch-moralisch gedacht ungerecht. Sie ist von Gottes Liebe her gedacht aber ‚barmherzig gerecht‘. Sie stiftet eine Beziehung liebevollen Vertrauens zwischen Gott und Mensch.
Weil Luther selbst von einer Art ‚Erleuchtung‘ in seiner Studierstube im Südturm des Wittenberger Augustinerklosters spricht, vermuten manche ein tatsachlich punktuelles „Turmerlebnis“, einen „Aha-Moment‘ plötzlicher (wirklich plötzlicher, nicht polizeilicher 😊) Erkenntnis, irgendwann zwischen seiner Ankunft in Wittenberg 1511 und seiner Römerbrief-Vorlesung 1515. (1)
Unsere ehemalige Landesbischöfin M.Käßmann schreibt:
‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘ – dieser Satz des Apostels Paulus wurde für M.Luther zum Durchbruch hin zu einer völlig neuen Sicht. Wir müssen nicht in Angst (vor Gott) leben, ... In Jesus Christus ist alles Scheitern des Menschen aufgehoben.
Luthers Frage nach dem gnädigen Gott verstehen viele Menschen heute nicht auf Anhieb. Aber die Frage, ob ihr Leben Sinn hat, treibt sie um. Was, wenn ich nicht mithalten kann, weil ich keinen Arbeitsplatz habe, nicht genug verdiene, nicht gut genug aussehe?
Die Lebenszusage, die Luther gefunden hat: Gott rechtfertigt dein Leben, ganz gleich, ob es dir im Leben gelingt, die Gebote Gottes zu halten. … Luther entdeckte, dass es nicht die menschliche Leistung ist, die vor Gott einen Anspruch auf Heil erwirtschaftet. Vielmehr ist es Gottes Zuwendung aus Gnade.
Was das bedeutet, kann mit der Redewendung ‚Gnade vor Recht‘ erklärt werden. Ein Mensch, der nach Recht und Gesetz verurteilt ist, darf doch auf Gnade oder Begnadigung hoffen. Das verstehen Menschen auch heute sehr wohl.
Für Luther war die entscheidende Erkenntnis, dass durch Jesus Christus diese Zuwendung Gottes allen, die an ihn glauben, zugänglich wird. Gerade wenn der Mensch begreift, dass er selbst von sich aus nicht in der Lage ist, ein vollkommenes Leben nach den Geboten Gottes zu führen, kann er ganz auf Jesus Christus vertrauen. Das bedeutet, auch da, wo Recht und Gesetz verurteilen, was der Mensch tut, redet, denkt, verurteilt doch Gott nicht. Diese Erfahrung nennt Luther Rechtfertigung allein aus Glauben. …
In der Konsequenz ist dies eine Erfahrung der Freiheit, der Befreiung aus der Angst vor Hölle und ewiger Verdammnis. Und aus dieser Freiheit heraus wird der Mensch nun tun, was er kann, um so zu leben, wie es Gottes Gebote vorgeben – wohl wissend, dass er daran immer wieder scheitern wird. (2)
Es ist uns in die Seele eingestempelt wie eine Tätowierung: dass du vor einem Gericht stehen wirst und dabei nicht besonders gut wegkommst. Dass du Rechenschaft ablegen musst für alles, was du getan oder unterlassen hast. Dass dein Leben nicht gelungen ist. Schon der Gedanke versetzt dich in Alarm!
iUnd dann kommt einer vorbei und sagt: Keine Bange, der liebende Gott wird’s schon richten. Und bei dir macht es plötzlich (ja auch hier wieder wirklich ‚plötzlich‘, nicht ‚polizeilich‘) klick. Der liebende Gott wird es richten: so wie die Werkstatt den verbeulten Kotflügel meines Autos repariert hat. Gott wird es richten, statt über mich zu richten. Sagen, was gut war und was schlecht. Er wird mich – trotz allem - an die Hand nehmen, mir auf die Beine helfen und mich in Ordnung bringen, damit ich nicht krumm, sondern gerade stehe. (3)
Denn nur, wenn ich gerade vor jemandem stehe, können wir uns in die Augen sehen, kann ich in seinen Augen seine Liebe zu mir sehen und nur dann kann ich richtig in den Arm genommen werden.
Erinnern wir uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Vater hat seinem jüngsten Sohn die Möglichkeit, die Freiheit geschenkt, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Als der diese Möglichkeit nur ungenügend nutzt und beschämt heimkehrt, geschieht das Unerwartete (Lukas 15, 20-24):
Sein Vater sah ihn schon von Weitem kommen und hatte Mitleid mit ihm. Er lief seinem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21Aber sein Sohn sagte zu ihm: ›Vater, ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.‹ 22Doch der Vater befahl seinen Dienern: ›Holt schnell das schönste Gewand aus dem Haus und zieht es ihm an. Steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm Sandalen für die Füße. 23Dann holt das gemästete Kalb her und schlachtet es: Wir wollen essen und feiern! 24Denn mein Sohn hier war tot und ist wieder lebendig. Er war verloren und ist wiedergefunden.‹ Und sie begannen zu feiern.
Da ist es gut, dass der Reformationstag ein Feiertag ist!
Gebet: (nach: S.Niemeyer, a.a.O., S.193)
O komm, du Geist der Wahrheit:
kümmere dich um meine Seele.
O komm, du Geist der Wahrheit:
Befreie mich von den Höllenangstmachern
Befreie mich von den Buchhaltern meiner guten und schlechten Taten.
O komm, du Geist der Wahrheit:
Richte mich auf, wenn ich egoistisch verkrümmt nur auf mich gesehen habe.
Richte mich auf, wenn die Last meines Versagens mich niederdrückt.