447 5nach6_07.11.25_St. Martin und Martin Luther Ps 139
Quellen: 1 S.Bils, Wer ist dein Nächster? In: Ev. Zeitung, 14.09.25, S.3
3 M.Pankau, Sprachlehrer für Generationen, in: Ev. Zeitung, 26.10.25, S.2
Wir kommen vom Reformationstag, d.h. von Martin Luther und gehen zu auf St. Martin. Alles zu lange her? Gut, nähern wir uns erstmal unserer Zeit …
Die Theologin Sandra Bils schreibt: Im Juni 2023 verschwand das Tauchboot „Titan“ … mit fünf wohlhabenden Touristen an Bord. Sofort wurden internationale Rettungsaktionen eingeleitet. Mit Spezialschiffen und Unterwasserrobotern wurde alles technische Mögliche unternommen, um das Leben der Menschen zu retten. Die Weltöffentlichkeit verfolgte gespannt in den Medien die dramatische Suche.
In derselben Woche kenterte vor Griechenland ein Boot mit über 500 Schutzsuchenden, eine der größten Flüchtlingskatastrophen vor Europas Küsten. Dort aber wurde keine in-ternationale Aktion angestrengt und auch die öffentliche Aufmerksamkeit war gedämpft.
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus (Mt 25,40) … Nächstenliebe ist keine Frage der Sympathie oder kulturellen Nähe, sondern eine Haltung gegenüber jedem Menschen, dessen Wert Gott längst festgelegt hat. … Das Gebot der Nächstenliebe kennt keine Staatsgrenzen und lädt uns ein zu einer Welt, in der jeder Mensch zählt. Nicht weil dieser Mensch uns ähnlich ist, sondern weil er Gottes Ebenbild trägt. 1
Und was hat das jetzt mit St.Martin und Martin Luther zu tun? Nun, die beiden sind Vorbilder in Sachen grenzüberschreitender Nächstenliebe.
Der römische Reiteroffizier zerteilt in einer kalten Winternacht seinen Mantel, der ihm auch als Zelt dienen kann, also eine Art Poncho. Und warum? Um die Hälfte einem Bettler zuzuwerfen, der frierend in der Ecke neben dem Tor kauert. Zwischen diesen beiden liegen Welten! Und doch sieht Martin diesen armen Menschen, sieht auch seine Not – und sieht nicht darüber hinweg, sondern handelt.
In seinen Schriften formulierte Lenin: „Es gibt keine abstrakte Wahrheit. Die Wahrheit ist immer konkret.“ Er bezog sich damit auf die Notwendigkeit, politische Aufgaben in einer konkreten Situation zu lösen. Gleiches lässt sich über die Wahrheit der Nächstenliebe sagen. Theologen/innen können ganze Bücher über die Nächstenliebe schreiben! Wenn sie nicht konkret wird, sich nicht unmittelbar zwischen Menschen ereignet, wird sie zur hohlen Formel, zur leeren Phrase. Das können wir am Beispiel des Hl. Martin lernen.
Und Martin Luther? Ist die Nächstenliebe einer der Punkte, an dem die beiden Namensvettern einander berühren? Ja!
Für Luther ist die Liebe zum Nächsten eine Frucht des Glaubens an Gott. Er betont, dass sie nicht aus Pflicht, sondern aus einer freudigen und willigen Gesinnung entstehen soll. Ja, sie soll geradezu herauswachsen aus der dankbar empfundenen Liebe Gottes. Nächstenliebe äußert sich konkret in der Hilfe für den Nächsten, der Not leidet – so wie wir selbst Gottes Hilfe brauchen. Das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ bedeutet nach Luther, dass man andere so behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte. Da Gott uns umsonst hilft, sollen wir auch dem Nächsten durch unsere Taten umsonst helfen.
Aber Luther geht über die konkrete Situation hinaus und geht damit noch weiter als St. Martin in der Legende. Während Martin eine soziale Grenze überschreitet, die zwischen ihm, dem Offizier, und dem Bettler liegt, überschreitet Luther die Grenze zwischen Einzelwesen und Gesellschaft.
Luther wusste, dass Leid, Not und Armut so vieler Menschen seiner Zeit sich nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene lösen lassen. Armut war (und ist) - wie eine Struktur in einem Stoff - auch in die Gesellschaft eingewebt. Da brauchte es eben über das Zwischenmenschliche hinaus auch eine strukturelle Nächstenliebe, gesellschaftlich organisierte Nächstenliebe nicht nur für einen Armen.
So forderte und organisierte Luther den „Gemeinen Kasten“. Der "Gemeine Kasten" war eine Maßnahme, die in der Reformation entstand und der Armenfürsorge diente. Anstatt zu betteln, sollten die Menschen Unterstützung erhalten, wenn sie bedürftig waren. Zudem sollten sie durch Bildung und Arbeit in die Gesellschaft integriert werden. Luthers Forderung nach Versorgung der Armen führte zur Entwicklung solcher "gemeinen Kästen", die zur Finanzierung von Pfarrern, Lehrern und anderen gemeinnützigen Zwecken dienten und eine frühe Form der kommunalen Sozialhilfe darstellten.
Der "Gemeine Kasten" ging auf Martin Luthers Forderung zurück, sich um die Armen zu kümmern – erhoben in seiner Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" (1520).
In einigen Fällen wie der "Leisniger Kastenordnung" wurden von der Kirchengemeinde Vorsteher aus verschiedenen Schichten gewählt, um die Verwaltung zu organisieren.
Des Weiteren sollte die Instandhaltung des Kirchengebäudes, der Schulgebäude und der Hospitäler durch den Gemeinen Kasten finanziert werden. Darüber hinaus finden sich in der Kastenordnung auch Regelungen zur Vergabe von Darlehen, zur Unterstützung Fremder und zur Anlage eines Lebensmittelvorrats für die Gemeinde.
Auch über die Finanzierung der Gemeindekasse selbst und über die Verwaltung derselben gibt die Leisniger Kastenordnung Auskunft: … An Geldern und Gütern, die dem Gemeinen Kasten zukommen sollen, werden in der Kastenordnung unter anderem kirchliche Besitzungen und kirchliche Stiftungen sowie freiwillige Spenden und Vermächtnisse angeführt.
… Die Leisniger Kastenordnung war … wahrscheinlich Mitte des Jahres 1523 – auf Betreiben Martin Luthers im Druck erschienen. Auf diese Weise weiterverbreitet und einem größeren Kreis bekannt gemacht, sollte sie, laut Luther, anderen Gemeinden als ein „gemeines Exempel“ (ein allgemeines Beispiel) dienen können. …2
Und damit sind wir beim Sozialstaat unserer Zeit. Neben der eher privaten Hilfe durch Spenden, Stiftungen und bürgerschaftliche Initiativen treten kirchliche und nicht-kirch-liche Organisationen wie Diakonie, Caritas, ASB, Paritätischer Wohlfahrtsverband u.a.m.
Und weil das allein nicht reicht, gibt es auch soziale Hilfen seitens des Staates, finanziert aus Steuermitteln, so dass jede/r seinen Teil dazu beiträgt.
Bei allen notwendigen Diskussionen um eine Reform des Sozialstaates sollte man nicht vergessen, wo er eine seiner dicksten Wurzeln hat, nämlich in jenem Jesus-Wort aus dem Gleichnis vom Weltgericht: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan.“ Und später sagt Jesus auch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan (Mt 25,45).
Zurück zur eingangs zitierten Sandra Bils. Das biblische Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18) stellt alle nationalen und kulturellen Grenzen radikal infrage. Es funktioniert nur deshalb, weil nicht nur ich von Nächsten umgeben bin, sondern weil auch ich selbst jemandes Nächster bin ... Ich träume davon, dass wir uns von Gott gewinnen lassen, alle Menschen als unsere Nächsten zu sehen.
Sandra Bils arbeitet mit bei United4Rescue (gegründet 2019), mittlerweile Europas größtes Bündnis zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung, weil wir nicht tatenlos zusehen wollen, wie das Mittelmeer zum Massengrab wird.1
Diese Menschen können und wollen nicht alle retten. Auch der barmherzige Samariter konnte nicht alle retten, die auf dem Weg zwischen Jericho und Jerusalem überfallen wurden. Aber er hat im Sinne Jesu getan, was er in einer konkreten Situation tun konnte. Die Wahrheit ist konkret oder sie ist nicht. Auch Nächstenliebe ist konkret oder sie ist nicht.
Nächstenliebe kann so unterschiedliche Gesichter haben! United4Rescue, unsere Diakonie – und wenn unser Auto in der Inspektion ist, fährt eine Freundin meine Frau zur Ergotherapie.
Noch einmal zu Martin Luther, der ja die deutsche Sprache nachhaltig geprägt hat. Mit einigen seiner Wortschöpfungen3 lässt sich Nächstenliebe gut umschreiben, denke ich.
Gelder i.S. der Nächstenliebe auszugeben heißt eben nicht, dass man „Perlen vor die Säue wirft“ (Mt 7,6)! Da sollen die „Lästermäuler“ „ihre Zungen im Zaum halten“ (Jakobus 3,2). Vielmehr sollen wir das Gebot der Nächstenliebe mit „Feuereifer“ und „frohgemut“ umsetzen. Dabei ist natürlich „Langmut“ gefragt, weil sich nicht alles von heute auf morgen verändern lässt. Zur Nächstenliebe gehört auch, dass man „gastfrei“ Menschen in Not aufnimmt, selbst wenn sie aus dem „Morgenland“ kommen.
Es wäre gut, wenn wir dabei „ein Herz und eine Seele“ und nicht „wetterwendisch“ wären.
Gebet:
1) Liebe ist nicht nur ein Wort,
Liebe, das sind Worte und Taten.
Als Zeichen der Liebe ist Jesus geboren,
als Zeichen der Liebe für diese Welt.
…
3) Hoffnung ist nicht nur ein Wort,
Hoffnung, das sind Worte und Taten.
Als Zeichen der Hoffnung ist Jesus lebendig,
als Zeichen der Hoffnung für diese Welt.